Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Verzögerungsrüge. Erforderlichkeit der Schriftform. über zehnjährige Dauer des Ausgangsverfahrens. Pflicht des Gerichts zur Verfahrensbeschleunigung. Verkürzung von Antwortfristen. umgehende Terminierung. kein Abwarten von Schriftsätzen. Abweichung von der Regelpauschale. hohe Klageforderung im sozialgerichtlichen Verfahren. kein atypischer Sonderfall im Vergleich zu zivilgerichtlichen Verfahren
Leitsatz (amtlich)
Eine Verzögerungsrüge nach § 198 Abs 3 S 1 GVG bedarf, soweit sie nicht mündlich in einem Verhandlungs- oder Erörterungstermin oder in der Rechtsantragstelle zu Protokoll gegeben wird, der Schriftform.
Orientierungssatz
1. Eine bereits sehr lange Dauer des sozialgerichtlichen Verfahrens kann dazu führen, dass das Gericht aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung gehalten ist, die aus seiner Sicht noch erforderlichen Ermittlungen so zügig wie möglich durchzuführen, dh sofort nach dem Termin tätig zu werden und Zeugen nur eine kurze Antwortfrist einzuräumen, um den Rechtsstreit sodann umgehend neu zu terminieren.
2. Ein eingereichter Schriftsatz schlägt dann nicht mehr mit einer Überlegungs- und Bearbeitungszeit mit einem Monat zu Buche, wenn das Gericht aufgrund des bisherigen Verfahrensverlaufs (hier: elfjährige Anhängigkeit, bereits umfangreicher und erschöpfender Vortrag und abgeschlossene Ermittlungen) gehalten ist, den entscheidungsreifen Rechtsstreit unabhängig von einem etwa noch eingehenden Schriftsatz umgehend zu terminieren (Abgrenzung zu BSG vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 4).
3. Allein die Tatsache, dass die Klageforderung im Ausgangsverfahren für ein sozialgerichtliches Verfahren ungewöhnlich hoch gewesen ist (hier: 2 Millionen Euro), rechtfertigt vor dem Hintergrund der einheitlichen Konzeption der Entschädigungspauschale in § 198 Abs 2 S 3 GVG in allen Gerichtszweigen noch keine Abweichung vom Regelbetrag wegen Vorliegens eines atypischen Sonderfalls.
Tenor
Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, dem Kläger 1.500 € wegen unangemessener Dauer des Klageverfahrens S 24 AS 445/04 bei dem Sozialgericht Stade zu zahlen.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, dem Kläger 1.000 € wegen unangemessener Dauer des Berufungsverfahrens L 7/12 AL 12/09 bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zu zahlen.
Die Gerichtskosten werden dem Kläger zu 72 %, den Beklagten als Gesamtschuldner zu 11 % und dem Beklagten zu 2) allein zu 17 % auferlegt. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers haben die Beklagten zu 11 % als Gesamtschuldner und der Beklagte zu 2) zu 17 % allein zu erstatten. Der Kläger hat die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2) zu 72 % und diejenigen der Beklagten zu 1) zu 89 % zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 8.850 € festgesetzt.
Tatbestand
Streitig ist ein Entschädigungsanspruch des Klägers wegen überlanger Dauer eines gerichtlichen Verfahrens.
Der K. geborene Kläger erhob am 17. Dezember 2004 bei dem Sozialgericht (SG) Stade eine Klage gegen die Bundesagentur für Arbeit, mit der er einen Anspruch auf Insolvenzgeld in Höhe 2.000.000 € geltend machte. In dem zunächst unter Aktenzeichen S 6 AL 445/04 und später unter dem Aktenzeichen S 24 AL 445/04 geführten Klageverfahren ging am 19. Januar 2005 die Klageerwiderung ein, welche dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zur Kenntnisnahme übersandt wurde. Anschließend wurde die Akte ohne Bestimmung einer Wiedervorlage in ein Fach verfügt. Eine prozessleitende Verfügung erging sodann erstmals im Januar 2007, in dem davorliegenden Zeitraum blieb die Akte bis auf die Beantwortung einer Anfrage der L. und einer Sachstandsanfrage des Klägers unbearbeitet. Nach Erinnerung ging am 16. April 2007 die Stellungnahme des Klägers zu der prozessleitenden Verfügung ein, woran sich weiterer Schriftwechsel der Beteiligten anschloss. Nachdem am 16. Juli 2007 eine Anfrage an die L. beantwortet worden war, erfolgte im September 2007 eine weitere prozessleitende Verfügung, welche u. a. die Einholung einer Auskunft des Insolvenzverwalters beinhaltete. Diese ging nach zwischenzeitlicher Rückfrage am 15. November 2007 bei dem SG ein. Die hierzu angeforderte Stellungnahme des Klägers ging nach Erinnerung am 1. April 2008 bei dem SG ein. Im selben Monat nahm auch die Bundes-agentur für Arbeit nochmals abschließend Stellung, woraufhin der Kammervorsitzende die Akte in das Sitzungsfach verfügte. Mit Ladungsverfügung vom 22. Juli 2008 wurde der Rechtsstreit für den 23. September 2008 terminiert. An diesem Tag erfolgte eine umfangreiche Anhörung des Klägers, welche die Kammer zur Vertagung des Rechtsstreits zwecks Vernehmung des früheren Arbeitgebers als Zeugen veranlasste. Mit Verfügung vom 14. Oktober 2008 erfolgte die Terminladung für den 9. Dezember 2008. In diesem Termin wurde nach durchgeführter Beweisaufnahme ein klageabweisendes Urteil verkündet.
Der Kläger legte am 26. Januar 2009 Berufung ein (Az. L 12 AL 12/09). Zu ...