Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. Versorgungsmedizinische Grundsätze. verkehrsrechtliche Vorschriften. Gleichstellung mit Regelbeispielen. Vergleichsmaßstab des Doppeloberschenkelamputierten. Nachteile beim Ein- und Aussteigen. Unfähigkeit des selbständigen Entladens eines Rollators aus dem Auto. Schwierigkeiten beim Verlassen des Kraftfahrzeugs

 

Orientierungssatz

1. Im Rahmen der Zuerkennung des Merkzeichens aG ist bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an unteren Gliedmaßen nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil D Nr 3 Buchst b S 2 der Anlage zu § 2 VersMedV) zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das mangelnde Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist.

2. Zum Ausgleich von Nachteilen beim Ein- und Aussteigen ist die Ausnahmegenehmigung vom Parkverbot nicht geschaffen (hier in Bezug auf die Unfähigkeit, einen Rollator selbstständig aus dem Kofferraum zu entladen).

3. Bloße Schwierigkeiten beim Verlassen des Kraftfahrzeugs bleiben für die Feststellung des Merkzeichens aG ohne Bedeutung (vgl BSG vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 5/06 R).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 11.05.2016; Aktenzeichen B 9 SB 94/15 B)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung des Merkzeichens “aG„.

Die 1924 geborene Klägerin ist mittlerweile 91 Jahre alt und verfügt seit 1986 über eine Schwerbehindertenanerkennung, wobei in die damalige Bewertung bereits eine Cox- und Gonarthrose beiderseits sowie eine Großzehengrundgelenksarthrose mit einem zusammenfassenden Grad der Behinderung (GdB) von 40 eingeflossen waren. Seinerzeit wurde, bei Feststellung eines GdB von 70, der Klägerin das Merkzeichen “G„ erteilt. Gemäß Bescheid vom 17. August 2001 wurde der GdB der Klägerin mit Wirkung ab dem 10. Mai 2001 mit 80 festgestellt. Die Klägerin erhielt im Jahr 2003 linksseitig eine Hüftgelenksprothese, eine Wirbelsäulenoperation erfolgte im März 2010. Das Merkzeichen “B„ für die Erforderlichkeit ständiger Begleitung im öffentlichen Nahverkehr ist bei der Klägerin seit dem 14. Oktober 2004 festgestellt.

Am 15. September 2010 stellte die Klägerin den hier streitgegenständlichen Neufeststellungsantrag. Der Beklagte holte aktuelle Befundberichte ein. Die behandelnde Hausärztin I. teilte mit, die Klägerin könne ohne Gehhilfe nicht mehr gehen. Sie benutze meist einen Rollator, manchmal für ein paar Schritte ihren Gehstock. Mit Mühe und langsam gehe sie 20 Meter in 5 bis 10 Minuten, dann habe sie keine Kraft mehr. Mit Rollator könne sie ca. 100 bis 200 Meter mit Pausen gehen. Der behandelnde Orthopäde Dr. J. bestätigte ein unsicheres Gangbild der Klägerin und teilte mit, sie gehe unter Zuhilfenahme eines Rollators kurze Strecken und werde bei den Wegen außer Haus grundsätzlich von ihrer Tochter begleitet. Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 16. Dezember 2010 den GdB der Klägerin ab dem 15. September 2010 mit nunmehr 90 fest. Den Antrag auf Feststellung der Merkzeichen “aG„ und “RF„ lehnte er zugleich ab. Zu Grunde gelegt wurden für die Bemessung des GdB unter anderem Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, Muskelfunktionsstörungen und eine Fehlhaltung mit einem Einzel-GdB von 30, eine Hüftgelenksarthrose beidseits mit Hüftgelenksprothese links mit einem Einzel-GdB von 40 und eine Herz-Kreislauf-Schwäche mit Gleichgewichtsstörungen mit einem Einzel-GdB von 30. Die Ablehnung der Erteilung des Merkzeichens “aG„ wurde unter anderem darauf gestützt, die Klägerin sei zur Fortbewegung nicht ständig auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen.

Die Klägerin legte gegen den Bescheid Widerspruch ein, soweit die Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ abgelehnt wurde. Sie berief sich darauf, sie leide unter einer Vielzahl gravierender Bewegungseinschränkungen, die es ihr in der Summe unmöglich machten, längere Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Auch kürzere Wegstrecken seien nur unter großer körperlicher Anstrengung möglich. Mit einem Rollator sei die Situation etwas besser, sie müsse sich jedoch nach 20 Metern wegen Schmerzen in Rücken und Beinen und wegen der Anstrengung ausruhen. Nach Einholung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme, erstellt von Frau Dr. K., wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 2011 zurück.

Die Klägerin hat am 3. März 2011 Klage erhoben. Sie hat sich ergänzend darauf berufen, sie habe mittlerweile auch rechts eine Hüftgelenksprothese, sie sei pflegebedürftig und der Pflegestufe I zugeordnet, und sie hat zudem erneut - wie bereits im Verwaltungsverfahren - auf eine psychische Belastung durch bestehende akute Sturzgefahr hingewiesen. Ergänzend hat sie auf ihre erheblichen, versorgungsärztlich auch bereits berücksichtigten Schulterbeschwerden hingewiesen sowie darauf, das Zurücklegen von mehr als wenigen Schrit...

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