Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kryokonservierung von Keimzellen. kein Sachleistungsanspruch als Grundlage eines Kostenerstattungsanspruchs vor Verabschiedung der "Richtlinie zur Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder Keimzellgewebe sowie entsprechende medizinische Maßnahmen wegen keimzellschädigender Therapie" (juris: KryoRL) durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. kein Systemversagen
Orientierungssatz
1. Vor Verabschiedung der von § 27a Abs 5 SGB 5 vorgegebenen KryoRL durch den Gemeinsamen Bundesausschuss im Dezember 2020 bestand kein Sachleistungsanspruch bezüglich der Kryokonservierung vom Keimzellen gem § 27a Abs 4 SGB 5, so dass schon aus diesem Grund ein Kostenerstattungsanspruch gem § 13 Abs 3 S 1 SGB 5 bezüglich einer im November 2019 durchgeführten Kryokonservierung nicht in Betracht kommt.
2. Da der Gemeinsame Bundesausschuss das Beratungsverfahren für die KryoRL mit Beschluss vom 4.7.2019 eingeleitet und im Dezember 2020 abgeschlossen hat, besteht in diesem Fall auch kein Raum für die Annahme eines Systemversagens.
Tenor
Das Urteil des SG Hannover vom 28. April 2021 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten für eine Kryokonservierung sowie die Kostenübernahme für die Zukunft.
Der am H. 1987 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Am 16. November 2019 wurde bei ihm bei einem Auslandsaufenthalt in I. (Österreich) überraschend Hodenkrebs diagnostiziert, nachdem er sich aufgrund von Schmerzen in die dortige Klinik begeben hatte. Bei zwei Vorstellungen in der Medizinischen J. K. r (ML.) am 17. und 18. November wurde die Diagnose bestätigt. Eine Orchiektomie (operative Entfernung des Tumors) wurde für den 22. November 2019 geplant. Im Zuge der Aufklärungsgespräche informierten die behandelnden Ärzte den Kläger, dass seine Zeugungsfähigkeit durch die Operation und die sich anschließende Chemotherapie gefährdet sei und empfahlen ihm aufgrund seines jungen Alters und eines bestehenden Kinderwunsches eine Kryokonservierung von Samenzellen, also die Entnahme und anschließende Lagerung bei extrem tiefen Temperaturen zur Aufrechterhaltung ihrer Vitalität. Für die Entnahme der Samenzellen erhielt der Kläger in der ML. einen Termin am 20. November 2019, den er wahrnahm.
Am 1. Dezember 2019 beantragte er bei der Beklagten die Kostenübernahme der Kryokonservierung sowie der dazu gehörenden medizinischen Maßnahmen. § 27a Abs 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) sei im Mai 2019 dahingehend novelliert worden, dass die Kryokonservierung Gegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung sei.
Mit Bescheid vom 5. Dezember 2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Gesetzgeber habe zum 12. Mai 2019 zwar die Rechtsgrundlage zur Kostenübernahme geschaffen, allerdings seien weitere Schritte bis zur Umsetzung erforderlich. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) müsse die Richtlinien zur künstlichen Befruchtung ergänzen. Erst danach könne die Abrechnung geregelt werden und die Ärztinnen und Ärzte dürften die Kryokonservierung zu Lasten der Krankenkassen erbringen und abrechnen.
Hiergegen legte der Kläger am 21. Dezember 2019 Widerspruch ein. Die gesetzliche Grundlage für eine Kryokonservierung sei bereits geschaffen. Es liege nicht in seiner Sphäre, wie die Abrechnung dieser Kassenleistung konkret umgesetzt werde und er habe keinen Einfluss hierauf.
Mit Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Gemäß § 27a Abs 4 SGB V bestehe seit dem 11. Mai 2019 grundsätzlich Anspruch auf Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder von Keimzellgewebe sowie auf die dazugehörigen medizinischen Maßnahmen, wenn die Kryokonservierung wegen einer Erkrankung und deren Behandlung mit einer keimzellschädigenden Therapie medizinisch notwendig erscheine, um spätere medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft vornehmen zu können. Nach Absatz 5 bestimme der GBA in den Richtlinien nach § 92 SGB V, insbesondere in den Richtlinien über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung, die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen. Dies sei noch nicht erfolgt. Auch sei noch keine Abrechnungsziffer für die Kryokonservierung von Spermien geschaffen worden. Insofern habe zum Zeitpunkt des Leistungsantrags bzw der Durchführung der Kryokonservierung noch kein Sachleistungsanspruch bestanden. Im Übrigen sei die Leistung aber auch in Anspruch genommen worden, ohne dass ihr - der Beklagten - die Möglichkeit einer Entscheidung gegeben worden sei. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) fehle es damit an dem erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen Ablehnung und Selbstbeschaffung. Der Kläger habe sich bereits unabhängig vom Verhalten seiner Krankenkasse endgültig auf diese Leistung festgelegt.
Der Kläger hat am 3. Juli 2020 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Hannover...