Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Schädigung der Leibesfrucht durch Alkohol- und Nikotinkonsum der Mutter. tätlicher Angriff. Grundrechte der Mutter. rechtsfeindliche Willensrichtung. Angriff gegen eine andere Person. Nasciturus. keine analoge Anwendung. Härteregelung
Leitsatz (amtlich)
Alkoholgenuss und Nikotinmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft sind keine schädigenden Ereignisse iS von § 1 OEG, weil das Verhalten der Mutter nicht rechtswidrig ist und zudem keine bereits zum Zeitpunkt der potentiell schädigenden Einwirkungen existente Person betrifft.
Auf Fälle dieser Art ist § 1 OEG auch nicht analog anzuwenden.
Die Versagung von Leistungen für ein behindert geborenes Kind bedeutet keine besondere Härte iS von § 89 BVG.
Orientierungssatz
1. Die schwangere Frau kann in Ausübung ihrer Grundrechte aus Art 2 Abs 1 iVm mit Art 1 Abs 1 GG autonom entscheiden, ob sie während der Schwangerschaft etwa Alkohol zu sich nimmt.
2. Schwangere, die Alkohol trinken oder Cannabis oder Nikotin konsumieren, handeln auch nicht "rechtsfeindlich".
3. Ein Nasciturus kann noch keine “Person„ im Sinne des Gesetzes sein (vgl BSG vom 24.10.1962 - 10 RV 583/59 = BSGE 18, 55 = SozR Nr 64 zu § 1 BVG).
4. Soweit das BSG - vereinzelt und zu kritisieren - den Wortlaut von § 1 OEG durch Analoganwendung erweitert hat (vgl BSG vom 16.4.2002 - B 9 VG 1/01 R = BSGE 89, 199 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21), wird hierfür jedenfalls ein rechtswidriger, vorsätzlicher Angriff gegen eine andere Person vorausgesetzt.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 17. Juni 2015 wird zurückgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem Kläger Schädigungsfolgen i.S.d. Opferentschädigungsgesetzes (OEG) festzustellen sind und ihm deswegen Leistungen nach dem OEG i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren sind.
Bei dem 2004 geborenen Kläger, der in einer Pflegefamilie lebt, hatte der Beklagte mit Bescheid vom 10. August 2009 einen Grad der Behinderung (GdB) i.S.d. Schwerbehindertenrechts von 80 seit Geburt sowie das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen “G„, “B„ und “H„ wegen eines
fetalen Alkoholsyndroms
festgestellt.
Im Februar 2010 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem OEG wegen eines fetalen Alkoholsyndroms. Als Tatvorgang schuldigte er hierbei einen Alkohol- und Nikotinkonsum der Kindesmutter während der Schwangerschaft an. Mit Bescheid vom 28. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2011 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Beweis für das Vorliegen eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S.v. § 1 OEG sei nicht erbracht. Selbst wenn man Alkohol- und Nikotinkonsum der Mutter während der Schwangerschaft unterstelle, sei die Zielrichtung der Handlung unklar. Insbesondere sei nicht erwiesen, ob die Mutter das Kind habe vorsätzlich schädigen wollen.
Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Osnabrück erhoben. Damit hat er die Gewährung von Heilbehandlung und von Beschädigtengrundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 80 begehrt. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass seine Mutter während der Schwangerschaft Alkohol und Nikotin in dem Wissen konsumiert habe, dass dadurch Schädigungen an dem noch ungeborenen Kind eintreten würden. Es sei davon auszugehen, dass die Mutter durch die Erstberatung in der gynäkologischen Praxis ausreichend über die Folgen von Alkohol- und Nikotinkonsum aufgeklärt gewesen sei. Sie habe deshalb mindestens mit bedingtem Vorsatz gehandelt, wenn sie gleichwohl Alkohol und Nikotin konsumiert habe. Ihr Handeln stelle auch einen tätlichen Angriff dar. Damit sei der Tatbestand einer Körperverletzung i.S.v. § 223 StGB und der gefährlichen Körperverletzung von § 224 StGB verwirklicht. Auch das noch ungeborene Kind sei vom Gesetz geschützt.
Das Sozialgericht hat medizinische Unterlagen über den Kläger beigezogen und sich die Akte des Allgemeinen Sozialdienstes des Landkreises J. vorlegen lassen. Sodann hat es die Klage mit Urteil vom 17. Juni 2015 als unbegründet abgewiesen. Die Voraussetzungen der geltend gemachten Ansprüche gemäß § 1 OEG seien nicht nachgewiesen. Bereits der Alkoholkonsum der Mutter des Klägers sei nicht nachgewiesen. Jedenfalls handele es sich dabei nicht um einen tätlichen Angriff. Auch fehle es an einem nur bedingten Vorsatz, weil es sich nicht um eine gegen eine andere Person gerichtete feindliche Handlung gehandelt habe. Der Kläger sei zu dem Zeitpunkt der angeschuldigten Handlungen seiner Mutter noch keine Person im Sinn des Gesetzes gewesen.
Gegen das ihm am 28. Juli 2015 zugestellte Urteil wendet sich die am 6. August 2015 bei dem Sozialgericht eingegangene Berufung des Klägers, mit der er sein Anliegen weiter verfolgt. Er wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen und ergänzt weiterführend, dass für die Anna...