Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Schädigung der Leibesfrucht durch Alkohol-, Cannabis- und Nikotinkonsum der Mutter. tätlicher Angriff. Grundrechte der Mutter. rechtsfeindliche Willensrichtung. Angriff gegen eine andere Person. Nasciturus. keine analoge Anwendung
Leitsatz (amtlich)
Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft ist kein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS von § 1 OEG und löst daher keinen opferentschädigungsrechtlichen Anspruch aus.
Orientierungssatz
1. Die schwangere Frau kann in Ausübung ihrer Grundrechte aus Art 2 Abs 1 iVm mit Art 1 Abs 1 GG autonom entscheiden, ob sie während der Schwangerschaft etwa Alkohol zu sich nimmt.
2. Schwangere, die Alkohol trinken oder Cannabis oder Nikotin konsumieren, handeln auch nicht “rechtsfeindlich„.
3. Ein Nasciturus kann noch keine “Person„ im Sinne des Gesetzes sein (vgl BSG vom 24.10.1962 - 10 RV 583/59 = BSGE 18, 55 = SozR Nr 64 zu § 1 BVG).
4. Soweit das BSG - vereinzelt und zu kritisieren - den Wortlaut von § 1 OEG durch Analoganwendung erweitert hat (vgl BSG vom 16.4.2002 - B 9 VG 1/01 R = BSGE 89, 199 = SozR 3-3800 § 1 Nr 21), wird hierfür jedenfalls ein rechtswidriger, vorsätzlicher Angriff gegen eine andere Person vorausgesetzt.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. Juni 2014 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie um den Anspruch auf Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der Kläger ist am J. 2001 geboren und lebt in einer Pflegefamilie. Seine Pflegeltern haben für ihn im März 2012 beantragt, Schädigungsfolgen festzustellen und Versorgungsleistungen zu gewähren. Zur Begründung haben sie darauf hingewiesen, die leibliche Mutter des Klägers habe während der Schwangerschaft Alkohol, Cannabis und Nikotin zu sich genommen. Dies habe zu einer Schädigung des Klägers im mütterlichen Leib geführt. Der Kläger sei daher Opfer einer schädigenden Einwirkung im Sinne des OEG geworden.
Das beklagte Land lehnte den Antrag mit hier streitigem Bescheid vom 21. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2012 ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, bei den angeschuldigten Verhaltensweisen der leiblichen Mutter des Klägers handele es sich nicht um schädigende Einwirkungen im Sinne des OEG.
Am 26. Juni 2012 ist Klage erhoben worden. Zur Stützung des Klagebegehrens hat der Kläger - wie schon im Verwaltungsverfahren - ein Schreiben des Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie K. vom 12. Januar 2012 vorgelegt. Dieser hatte bei dem Kläger eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, eine emotionale Störung des Kindesalters mit Hinweisen einer Bindungsstörung sowie ein embryofetales Alkoholsyndrom diagnostiziert.
Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klage mit Urteil vom 19. Juni 2014, welches dem Kläger am 16. Juli 2014 zugestellt worden ist, abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, bei den angeschuldigten Einwirkungen handele es sich nicht um Tatbestände des OEG. Zum einen handele sich schon deshalb nicht um einen tätlichen Angriff im Sinne des OEG weil es insoweit an einem strafbaren Verhalten fehle. Hinsichtlich der Körperverletzungstatbestände ergebe sich dies schon daraus, dass es hier nicht zu einem Angriff auf eine andere Person im Sinne des Strafrechts gekommen sei. Daher könne dahingestellt bleiben, ob und in welchem Ausmaß die Mutter des Klägers tatsächlich während der Schwangerschaft Alkohol, Cannabis oder Nikotin zu sich genommen habe. Die angeschuldigten Verhaltensweisen könnten auch nicht als Vergiftung im Sinne des OEG verstanden werden.
Am 5. August 2014 ist Berufung eingelegt worden.
Der Kläger ist nach wie vor der Auffassung, die angeschuldigten Verhaltensweisen seiner leiblichen Mutter erfüllten einen Schädigungstatbestand nach dem OEG.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 19. Juni 2014 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 21. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 2012 aufzuheben,
2. das beklagte Land zu verurteilen, bei dem Kläger ab März 2012 ein embryofetales Alkoholsyndrom als Schädigungsfolge festzustellen und ihm Beschädigtenrente nach dem OEG zu gewähren.
Das beklagte Land beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht es sich auf seinen angefochtenen Bescheid sowie die erstinstanzliche Entscheidung.
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entsc...