Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG. "gewaltlose" Nachstellungen. Stalking. Rückwirkungsverbot gemäß Art 103 Abs 2 GG
Leitsatz (amtlich)
1. "Gewaltlose" Nachstellungen eines sog "Stalkers" sind in ihrer Gesamtheit jedenfalls dann als "tätlicher Angriff" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG zu werten, wenn sie den Tatbestand der Nachstellung iS von § 238 Abs 1 StGB verwirklichen würden, sich zumindest mit bedingtem Vorsatz auch gegen die gesundheitliche Integrität des Opfers richten und auch mit Zwangswirkungen (Flucht- oder Ausweichverhalten) durch physische Präsenz des Nachstellers (Auflauern, Verfolgen, Festhalten des Opfers) verbunden sind.
2. Dem Entschädigungsanspruch steht nicht entgegen, dass die Handlungen vor dem 31.3.2007 begangen wurden und daher wegen des absoluten Rückwirkungsverbotes nach Art 103 Abs 2 GG, § 1 StGB nicht als strafbare Nachstellungen iS von § 238 StGB bestraft werden könnten. Bei der opferentschädigungsrechtlichen Beurteilung sind vielmehr auch die zwischenzeitlichen Rechtsentwicklungen zu berücksichtigen.
3. Ob Nachstellungshandlungen, bei denen der Nachsteller ausschließlich postalisch, durch elektronische Medien oder telefonisch Kontakt mit dem Opfer aufnimmt und eine Konfrontation des Opfers mit seiner physischen Präsenz unterlässt, als "tätlicher Angriff" betrachtet werden können, bleibt offen.
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) für die Klägerin wegen der gesundheitlichen Folgen massiver Nachstellungen (sog. "Stalking").
Die 1950 geborene Klägerin ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern und hat den Beruf einer Sozialpädagogin erlernt. Zuletzt war sie von 1992 bis Juni 2003 als Nachtwache in einer Wohnstätte für behinderte Menschen in I. beschäftigt.
Seit Mai 2001 lebte die Klägerin in einer Beziehung mit dem 1960 geborenen J. (im Folgenden: Nachsteller). Die Beziehung mit dem - alkoholkranken - Nachsteller entwickelte sich konfliktreich, so dass die Klägerin sie bereits ab Oktober 2001 wieder zu beenden versuchte. Der Nachsteller akzeptierte dieses nicht und belegte die Klägerin in der Folgezeit mit zahlreichen Telefonanrufen und elektronischen Kurznachrichten (SMS), zudem alarmierte er über die entsprechenden Notrufnummern wiederholt die Polizei, die Feuerwehr und den Notarzt zu vorgeblichen Streitigkeiten, Schlägereien bzw. Bränden in der Wohnung der Klägerin, ohne dass bei Eintreffen der Einsatzkräfte entsprechende Gefährdungs- oder Schadenslagen festgestellt werden konnten. Ferner wurden von dem Nachsteller - ohne entsprechenden Bedarf - u.a. wiederholt Taxen zur Wohnanschrift der Klägerin bestellt. Die Klägerin erwirkte daraufhin erstmals am 7.1.2002 eine einstweilige Verfügung des Amtsgerichts (AG) I. - 52 C 0047/02 - gegen den Nachsteller, in der diesem unter Androhung von Ordnungsgeld, ersatzweise Ordnungshaft, untersagt wurde, die Klägerin zu bedrohen oder zu belästigen sowie in ihrem Namen "die Polizei und Feuerwehr, andere Rettungsdienste, Bestattungsunternehmen, Taxiunternehmen und so weiter zu alarmieren". Dies veranlasste den Nachsteller indes nicht, sein Verhalten gegenüber der Klägerin zu ändern. Unter anderem ereigneten sich im Weiteren die folgenden Vorfälle:
Am 5.3.2002 rief (vermutlich) der Nachsteller mehrfach am Arbeitsplatz der Klägerin an und teilte mit, dass "bei Euch eine Bombe hochgehen" werde, wenn die Klägerin "noch mal in das Haus kommt".
Am 6.3.2002 rief der Nachsteller bei der - seinerzeit 81-jährigen - Mutter der Klägerin an und teilte ihr mit, dass ihre Tochter - die Klägerin - in wenigen Minuten tot sein werde. Einige Minuten später teilte er der Mutter der Klägerin telefonisch mit, dass die Klägerin nunmehr tot sei. Nach Eintreffen der daraufhin zum Wohnort der Klägerin verständigten Polizei rief (vermutlich) der Nachsteller wiederholt in Gegenwart der Polizei auf dem Mobiltelefon und dem Festnetzanschluss der Klägerin an, legte jedoch zunächst ohne ein Wort zu sagen wieder auf. Bei einem neuerlichen Anruf teilte (vermutlich) der Nachsteller dem den Anruf nunmehr entgegennehmenden Polizeibeamten wörtlich mit: "Jetzt muss sie fürchterliche Angst haben!" und legte auf. Am Abend des gleichen Tages meldeten sich mehrere "Pizza-Services" bei der Klägerin, die ihr eine vermeintlich von ihr bestellte Pizza bringen wollten.
Am 7.3.2002 rief der Nachsteller wiederholt die Mutter der Klägerin an und teilte ihr mit, dass die Klägerin "heute sterben" werde.
Am 16.3.2002 rief (vermutlich) erneut der Nachsteller wiederholt am Arbeitsplatz der Klägerin an und teilte mit, dass "eine Bombe fliegen" werde.
Am 22.3.2002 ließ der Nachsteller der Klägerin an ihrem Arbeitsplatz ausrichten, demnächst werde ein Gerichtsvollzieher "vor ihrer Tür stehen".
Derartige Telefonanrufe wiederholten sich auch in...