Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung. Kodierung der Entwöhnung eines Neugeborenen vom mütterlichen Tabakkonsum als Drogenentzugssymptom
Orientierungssatz
1. Eine Kodierung der Nebendiagnose P96.1 (Entzugssyndrom bei Neugeborenen bei Einnahme von abhängigkeitserzeugenden Arzneimitteln oder Drogen durch die Mutter) kommt nicht in Betracht, da Tabak und Nikotin keine Drogen iS des Begriffsverständnisses des ICD-10-GM sind.
2. Eine Entzugssymptomatik bei Tabakkonsum wird nach dem Verständnis des ICD-10-GM vom Schädigungsbegriff iS von P04.2 erfasst.
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom
Dezember 2015 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 6.796,62 Euro.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die weitere Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung, wobei die Abrechnung der Nebendiagnose P96.1 auf Grundlage der Fragestellung streitbefangen ist, ob die Entwöhnung eines Neugeborenen vom mütterlichen Tabakkonsum als Drogenentzugssymptom kodiert werden kann.
Zugrunde lag der Behandlungsfall des bei der Beklagten familienversicherten Neugeborenen J.. Das Kind wurde am 1. April 2009 in der 30. Schwangerschaftswoche von seiner damals 38jährigen Mutter bei einem Geburtsgewicht von 1060 Gramm zur Welt gebracht. Bei der Mutter bestand während der Schwangerschaft ein Nikotinabusus. Nach der Geburt litt das Kind an erheblichen Atem- und Herzproblemen. Das Kind musste intensivmedizinisch behandelt und beatmet werden. Am 22. Mai 2009 erfolgte die Entlassung aus der stationären Behandlung.
Mit Schlussrechnung vom 28. Mai 2009 berechnete die Klägerin gegenüber der Beklagten die DRG P03B mit einem Gesamtvergütungsbetrag von 39.205,02 Euro. Als Hauptdiagnose kodierte sie P22.0 (Atemnotsymptom des Neugeborenen) und als Nebendiagnose ua P96.1 (Entzugssyndrom beim Neugeborenen bei Einnahme von abhängigkeitserzeugenden Arzneimitteln oder Drogen durch die Mutter). Der Rechnungsbetrag wurde von der Beklagten zunächst vollumfänglich erstattet.
Mit Schreiben vom 7. August 2009 beauftragte die K. als Rechtsvorgängerin der Beklagten den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der sozialmedizinischen Begutachtung zur Frage der Beatmungsstunden und zur Frage einer Drogen- oder Arzneimittelabhängigkeit der Mutter. Mit Gutachten vom 20. August 2010 führte der Anästhesist Dr L. aus, dass die Hauptdiagnose und die Beatmungsstunden nicht zu beanstanden seien. Da jedoch nur ein Nikotinabusus der Mutter vorliege, sei die Nebendiagnose P96.1 nicht abzubilden. Es ergebe sich insgesamt die DRG P03C anstelle der angerechneten DRG P03B.
Dem hielt die Klägerin durch den Chefarzt Prof Dr M. entgegen, dass Nikotin eine Abhängigkeit erzeuge und Entzugssymptome verursache. Dies treffe insbesondere auf Früh- und Neugeborene zu, deren Mütter während der Schwangerschaft geraucht hätten. Der Nikotinentzug mache sich durch eine verstärkte Unruhe sowie durch Herz- und Atembeschwerden bemerkbar. Sämtliche Symptome seien in der Krankenakte dokumentiert, so dass die Nebendiagnose korrekt verschlüsselt sei.
Mit einem weiteren MDK-Gutachten vom 1. Oktober 2012 führte der Kinder- und Jugendmediziner und Neonatologe Dr N. aus, dass eine Schädigung des Feten und Neugeborenen durch Tabakkonsum der Mutter mit P042 spezifischer zu kodieren sei, was einer Kodierung mit P96.1 vorgehe. Hinzu komme, dass die Entzugssymptomatik, deren Stellenwert gegenüber einer neurotoxischen Wirkung beim Neugeborenen in der Zuordnung sehr kontrovers diskutiert werde, einen eigenständigen durch Nebendiagnosen abgebildeten Aufwand veranlassen müsste, der über die ebenfalls spezifischen P284 und ggf P91.3 hinausgehe. Eine solche Konstellation ergebe sich unter Umständen beim Heroin- oder Methadonentzug. Die ICD-Systematik und auch der fehlende Mehraufwand würden gegen eine Kodierung von P96.1 sprechen.
Dem hielt die Klägerin durch Prof Dr M. mit dessen weiterer Stellungnahme vom 14. Dezember 2012 entgegen, dass das Kind im vorliegenden Fall nicht nur von der Mutter kleingeraucht worden sei, sondern es habe auch eine postnatale Entzugssymptomatik bestanden, die zu einem deutlich höheren Pflegeaufwand im Vergleich zu Kindern geführt hätte, die keine Nikotinentzugssymptomatik aufwiesen. Die Verwendung der Nebendiagnose sei daher eindeutig gerechtfertigt.
Ein weiteres MDK-Gutachten vom 12. Dezember 2013 durch PD Dr O., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, bestätigte die Aussagen der Vorgutachter. Gestützt auf diese Feststellungen nahm die Beklagte eine Verrechnung der Vergütungsdifferenz von 6.796,62 Euro vor.
Hiergegen hat die Klägerin am 18. Juni 2014 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben. Die Nebendiagnose P96.1 sei exakt diejenige Diagnose, die den Sachverhalt spezifisch und korrekt abbilde. Aus der Patientenakte lasse sich der sehr ...