Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss bei Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Jugendarrest. Nichtanwendbarkeit von § 7 Abs 4 S 3 Nr 2 SGB 2
Leitsatz (amtlich)
Die Verbüßung eines Jugendarrestes nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) unterfällt dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 S 2 SGB II .
Für eine erwerbszentrierte Definition des Begriffs der Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung ( § 7 Abs 4 S 2 SGB II ) ist im Hinblick auf die hierauf nicht anwendbare Rückausnahme nach § 7 Abs 4 S 3 Nr 2 SGB II kein Raum.
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Weitere als im Widerspruchsverfahren zuerkannte Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich auch mit der Berufung gegen die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten für Grundsicherungsleistungen im Juli 2019.
Der am 5. Februar 1998 geborene Kläger bezog Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) beim Beklagten. Mit Bewilligungsbescheid vom 15. März 2019 (Bl. 376 der Verwaltungsakte - VA) gewährte der Beklagte dem Kläger u.a. für den Leistungsmonat Juli 2019 Leistungen in Höhe von 844,00 Euro. Hierbei berücksichtigte er Kosten der Unterkunft und Heizung von zusammen 420,00 Euro im Monat und den Regelbedarf ohne Anrechnung von Einkommen. Aufgrund einer Mieterhöhung erließ der Beklagte am 7. Mai 2019 (Bl. 437 VA) einen Änderungsbescheid ab Mai 2019 und gewährte dem Kläger nunmehr monatliche Grundsicherungsleistungen in Höhe von 863,00 Euro.
Am 17. Juli 2019 teilte der Betreuer des Klägers dem Beklagten mit, dass sich der Kläger seit dem 17. Juli 2019 bis voraussichtlich 31. Juli 2019 in der Jugendarrestanstalt I. befinden werde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Leistungen für Juli 2019 bereits ausgezahlt. Am 5. September 2019 reichte der Betreuer die Haftbescheinigung für diesen Zeitraum nach (Bl. 516 VA).
Nach vorheriger Anhörung mit Schreiben vom 15. August 2019 (Bl. 509 VA) hob der Beklagte durch den hier streitigen Bescheid vom 16. September 2019 (Bl. 517 VA) die Bewilligung für den 17. bis zum 31. Juli 2019 im Umfang von insgesamt 402,74 Euro auf. Er stützte seine Entscheidung auf§ 48 SGB X und machte eine entsprechende Erstattungsforderung geltend.
Dem hiergegen eingelegten Widerspruch vom 1. Oktober 2019 (Bl. 535 VA) half der Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 19. November 2019 (Bl. 545 VA) teilweise ab und rechnete den Entlassungstag (31. Juli 2019) heraus. Dadurch reduzierte sich der Aufhebungs- und Erstattungsbetrag für Juli 2019 auf 373,98 Euro. Er übernahm teilweise Kosten des Vorverfahrens. Ergänzend betonte der Beklagte, dass die teilweise Aufhebung für die Zeit der Haft gerechtfertigt sei und sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen könne.
Hiergegen hat der Kläger am 9. Dezember 2019 anwaltlich vertreten beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass es sich beim Jugendarrest nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) nicht um eine Haftstrafe handele und deshalb die Ausschlussregelung des§ 7 Abs. 4 SGB II nicht greife. Hierzu hat er sich auf Entscheidungen desSozialgerichts Gießen vom 1. März 2010 - S 29 AS 1053/09 , desSozialgerichts Dresden vom 27. Januar 2014 - S 7 AS 1567/13 und desLandessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. September 2014 - L 4 AS 318/13 berufen. Zudem sei das Urteil des Bundessozialgerichts vom
5. August 2021 - B 4 AS 58/20 R(zur Zurückstellung einer Strafvollstreckung zugunsten einer stationären Entwöhnungsbehandlung) nicht auf den hier zu beurteilenden Fall eines Jugendarrestes übertragbar.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 6. September 2022 zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, dass der Aufhebung- und Erstattungsbescheid rechtmäßig sei. Die Voraussetzungen des§ 48 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) i.V.m.§ 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und§ 330 Abs. 3 Satz 1 und 4 SGB III hätten vorgelegen. Insbesondere sei der Kläger während des Jugendarrestes von Leistungen nach dem SGB II gemäߧ 7 Abs. 4 S. 2 SGB II ausgeschlossen. Der Jugendarrest sei ein Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Dem Charakter als Freiheitsentziehung stehe auch nicht entgegen, dass nach § 13 JGG ein Jugendarrest als Zuchtmittel und nicht als Strafvollzug anzusehen sei. Denn für Sinn und Zweck der Ausschlussregelung des§ 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II sei dieser Unterschied nicht entscheidend. Maßgebend für diese Ausschussregelung sei, dass der Betroffene für Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt (vgl. z.B.§ 1 ,§ 2 und§§ 14 ff. SGB II ) während seines Aufenthaltes in dieser Einrichtung nicht zur Verfügung stehe. Dies sei beim Kläger der Fall gewesen.
Der Kläger hat am 12. Oktober 2022 beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen die Zulassung der Berufung beantragt. Er hat dies umfassend damit begründe...