Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Geltendmachung eines sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. posttraumatisches Belastungssyndrom. Erlebnisbasiertheit der Aussage. Rechtsprechungsgrundsätze. kein Rückschluss von psychischen Erkrankungen auf tatsächliches Missbrauchsgeschehen. langes beschwerdefreies Zeitintervall als Gegenindiz. Gedächtnispsychologie. langfristige und dauerhafte Erinnerbarkeit von traumatischen Erlebnissen. Unzuverlässigkeit von zeitweise nicht zugängliche Erinnerungen. keine Methode zur eindeutigen Unterscheidung von subjektiv und objektiv erlebten Erinnerungen. zunehmende Ausweiterung von Erinnerungen als Indiz für fehlende Erlebnisbasierung. Begrenztheit von Kindheitserinnerungen. Glaubhaftmachung. verstärkte Beweisnot durch späte Antragstellung. verschuldetes Verstreichenlassen der Möglichkeit eines früheren Antrags
Orientierungssatz
1. Aus gestellten Diagnosen (wie hier etwa der PTBS oder der dissoziativen Störung) kann nicht ohne weiteres auf bestimmte Ereignisse zurückgeschlossen werden (vgl zuletzt LSG Celle-Bremen vom 9.2.2023 - L 10 VE 70/17 ).
2. Ein langer Zeitraum zwischen den angeschuldigten Taten und dem Beginn der Erkrankung spricht gegen die Annahme einer PTBS (hier: beschwerdefreies Intervall von etwa 20 Jahren).
3. Nach gedächtnispsychologischen Erkenntnissen können traumatische Erlebnisse in der Regel besonders langfristig erinnert werden und generell ist davon auszugehen, dass emotional bedeutsame Ereignisse besonders dauerhaft behalten und in der Regel auch explizit erinnert werden können, sodass zeitweise nicht zugängliche Erinnerungen (Wiedererinnerungen) gerade nicht als zuverlässig eingestuft werden.
4. Es gibt bislang keine Methode, die eine Differenzierung zwischen suggerierten, subjektiv aber als wirklich erachteten und tatsächlich erlebnisfundierten Aussagen erlaubt.
5. Sich ausweitende Erinnerungen können ein Indiz dafür sein, dass diese Erinnerungen nicht erlebnisbasiert sind (vgl LSG Stuttgart vom 9.11.2017 - L 6 VG 2118/17 ), denn nach gedächtnispsychologischen Erkenntnissen wäre eher zu erwarten, dass sich Erinnerungen im Laufe der Zeit verlieren oder abschwächen (vgl dazu LSG Mainz vom 19.8.2015 - L 4 VG 5/13 = ZFSH/SGB 2016, 261 ).
6. Zudem dürften Erinnerungen an Ereignisse im Alter von 2,5 Jahren eher nicht zuverlässig sein, da das Erinnerungsvermögen der Menschen in diesem Alter noch nicht ausgeprägt ist (infantile Amnesie).
7. Die Verstärkung von Beweisnot geht jedenfalls dann zu Lasten der antragstellenden Person, wenn kein Grund bestanden hat, den Antrag nicht zu einer früheren Zeit zu stellen, als noch bessere Beweismöglichkeiten bestanden haben (vgl LSG Mainz vom 29.6.2016 - L 4 VG 2/16 ).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 2. April 2019 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie um die Zuerkennung von Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG).
Die im Juni 1959 geborene Klägerin ist auf dem Gebiet der ehemaligen DDR aufgewachsen. Im Juli 2012 beantragte sie, ihr Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Sie sei durch ihren Vater in F./A. sexuell missbraucht worden. Der Vater sei im Oktober 1969 verstorben. Auch ihre Mutter, die 1995 verstorben sei, habe ihr zusammen mit dem Vater etwas angetan. Die damals zuständige Versorgungsverwaltung (nachstehend VA) leitete Ermittlungen ein und zog insbesondere medizinische Unterlagen über die Behandlung der Klägerin bei. Hieraus ergibt sich unter anderem folgendes:
Aus einem Entlassungsbericht des Klinikums I. in B. vom 21. Juni 2010 ergibt sich, dass die Klägerin dort vom 13. April bis zum 26. Mai 2010 in stationärer Behandlung war. Dort wurde eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Es wird berichtet, auch alle Geschwister der Klägerin hätten psychische Probleme. Aus einem Bericht des behandelnden Psychotherapeuten J. vom 29. August 2010 ergibt sich die Angabe der Klägerin, sie sei im Alter von sieben Jahren bis zum Alter von 10 Jahren von ihrem Vater missbraucht worden. Von Herrn J. liegt auch ein weiterer Bericht vom 19. Juni 2011 vor. Das Klinikum I. berichtet in einem Entlassungsbericht vom 19. Dezember 2011 von einem weiteren stationären Aufenthalt der Klägerin vom 7. Oktober bis zum 9. Dezember 2011. Die Klägerin leide seit 2008 zunehmend an überflutenden Erinnerungen. Flashbacks nähmen zu. Die Mutter der Klägerin habe sich 1995 suizidiert. Bei der Klägerin liege eine komplexe PTBS vor. Mit ihr sei eine Therapie nach dem Konzept von L. K. durchgeführt worden. Der Klägerin seien ausführliche psycho-edukative Informationen über Traumastörungen gegeben worden. Mit Bescheid vom 18. Januar 2012 stellte das Versorgungsamt B. be...