Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht

 

Leitsatz (amtlich)

Aus der Diagnose dissoziative Störung kann nicht auf ein bestimmtes Geschehen zurückgeschlossen werden.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 3. September 2012 wird aufgehoben.

Der Bescheid des beklagten Landes vom 17. Juli 2006 in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 20. Juni 2007 und die Teilanerkenntnisse vom 18.  Mai 2012 und vom 24. Januar 2013 gefunden hat, wird geändert.

Das beklagte Land wird verurteilt, der Klägerin aufgrund der festgestellten Schädigungsfolge “psychische Störungen„ ab April 2003 Beschädigtenrente nach einer MdE/GdS von 30 zu gewähren.

Das beklagte Land hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Anerkennung von Schädigungsfolgen sowie um die Feststellung eines Grades der Schädigung (GdS) nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die im September 1966 geborene Klägerin ist ausgebildete Erzieherin und bezieht seit September 2002 eine Rente wegen Erwerbsminderung. Bei ihr ist schwerbehindertenrechtlich ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 wegen einer psychischen Erkrankung festgestellt worden (Bescheid des Versorgungsamtes I. vom 30. Juli 2003).

Die Klägerin beantragte im April 2003 bei dem beklagten Land, bei ihr Schädigungsfolgen nach dem OEG festzustellen sowie ihr Entschädigungsleistungen zu gewähren. Zur Begründung ihres Antrags gab sie an, sie sei bereits im Alter von unter einem Jahr durch das Jugendamt ebenso wie ihr Bruder aus ihrem elterlichen Haushalt herausgenommen worden. Im Hintergrund habe gestanden, dass ihre Mutter der Prostitution nachgegangen sei und sie bereits als Säugling für sexuelle Handlungen zur Verfügung gestellt habe. Insoweit habe sie zwar keine persönlichen Erinnerungen. Ein sie früher behandelnder Psychiater habe ihr indessen aus der ihm damals zugänglichen Jugendamtsakte vorgetragen und hieran könne sie sich erinnern. Zudem sei sie von ihrer Mutter vernachlässigt worden und tagelang ohne ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln im Keller eingesperrt gewesen.

Nach Herausnahme aus der Ursprungsfamilie sei sie zunächst in Heimen untergebracht gewesen.

Im Alter von vier oder fünf Jahren sei sie in eine erste Pflegefamilie gekommen. Dort sei es zu schweren gewalttätigen Misshandlungen durch den Pflegevater gekommen. Sie könne sich insbesondere an zwei Ereignisse erinnern, angelegentlich deren sie von ihrem Pflegevater mit einem Stück Gartenschlauch schwer geschlagen worden sei. Aus dieser Pflegefamilie sei sie nach ca. einem Jahr herausgenommen worden. Sie wisse nicht mehr, wie diese Familie geheißen habe. Sie erinnere sich lediglich daran, dass dies in Schleswig-Holstein gewesen sei.

Sie sei dann auch aus dieser Familie herausgenommen und in eine andere Familie in J. in Niedersachsen gegeben worden. Dort sei es bei ihr im Alter von ca. 13 Jahren zum Auftreten einer schweren Bulimie gekommen. Mit dieser Erkrankung seien ihre Pflegeeltern nicht zurechtgekommen. Daraufhin sei sie - auch aufgrund eigener Initiative - erneut in ein Heim gegeben worden. Dort sei es zu einem Missbrauch durch den Heimleiter gekommen.

Das beklagte Land leitete Ermittlungen ein und zog u.a. die Akte der Rentenversicherung der Klägerin bei. Hieraus nahm sie u.a. einen Arztbrief der Medizinischen Hochschule K. vom 18. Juni 1985, einen Befund des Psychiaters Dr. L. vom 16. November 2002, ein Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie Dr. M. sowie ein weiteres Gutachten des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin N. zum Vorgang.

Auf Anfrage des beklagten Landes teilte das Jugendamt in O. mit, dort lägen keine Akten bezüglich der Klägerin mehr vor. Diese würden höchstens fünf Jahre nach Volljährigkeit aufbewahrt.

Weiter zog das beklagte Land einen Arztbrief des Niedersächsischen Landeskrankenhauses P. vom 20. Juli 2004 bei, in dem über einen Aufenthalt der Klägerin vom 28. Januar bis zum 30. Juni 2004 berichtet wird. Es wurde u.a. die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gestellt. Die Behandler teilten weiter mit, die Biographie der Klägerin sei wegen Gefahr einer Retraumatisierung nur grob erhoben worden. Im dort durchgeführten Testverfahren seien deutliche Hinweise auf traumatische Erfahrungen der Klägerin hervorgetreten.

Das beklagte Land zog sodann einen Befundbericht des Internisten Dr. Q. vom 20. Dezember 2004 bei. Dieser berichtete, er kenne die Klägerin seit Februar 2001. Sie habe ihm bereits in einem der ersten Gespräche von frühkindlichem Missbrauch erzählt. Diese Erzählung halte er für absolut glaubwürdig.

Das beklagte Land lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 17. Juli 2006 ab.

Auf den Widerspruch der Klägerin zog das beklagte Land zunächst eine ausführliche schriftliche Zeugenaussage der Psychotherapeutin R. über den gemeinsamen Besuch der Klägerin und der Psyc...

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