Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. sexueller Missbrauch in der Jugend. Glaubhaftmachung. Fehlen von Anhaltspunkten in den Krankenakten kein Gegenindiz. Verzerrungen in der Erinnerung. Erlebnisbasierung der Aussage. weitere Indizien durch psychiatrisches Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen. Versorgungsmedizinische Grundsätze. psychische Störung. Abgrenzung zwischen mittelgradigen und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin. Beitrittsgebiet. Härteregelung nach § 10a OEG. sozialgerichtliches Verfahren. isolierte Feststellungsklage. Elementenfeststellung. Feststellung des Vorliegens eines tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG. Verbindung mit Antrag auf Zuerkennung von bestimmten Schädigungsfolgen. Vervollständigung des Antrags durch das Berufungsgericht. Heraufholen von Prozessresten in der Berufungsinstanz. zulässige Klage. Erfüllung der weiteren Voraussetzungen des § 10a OEG für Zulässigkeit nicht erforderlich
Leitsatz (amtlich)
Zur Zulässigkeit von Feststellungsanträgen nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG im Opferentschädigungsrecht.
Zur Verwertung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Opferaussagen.
Orientierungssatz
1. Allein aus dem Nichtvorliegen medizinischer Erkenntnisse über Missbrauch und Gewalt (hier: in der medizinischen Vorgeschichte aus alten, rekonstruierbaren Befunden) kann nicht negativ geschlossen werden, Missbrauch und Gewalt hätten nicht stattgefunden.
2. Mögliche Verzerrungen in der Erinnerung des Opfers im Hinblick auf die Häufigkeit der Taten (hier: sexueller Missbrauch in der Jugend durch den Vater) stehen einer Glaubhaftmachung von tätlichen Angriffen iS des § 1 OEG nicht zwingend entgegen, wenn erhebliche Indizien hinzutreten, die darauf schließen lassen, dass die Erinnerungen des Opfers im Wesentlichen erlebnisbasiert sind (hier: psychiatrisches Sachverständigengutachten und Zeugenaussagen).
3. Zur Abgrenzung zwischen mittelgradigen und schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten iS von Teil B Nr 3.7 VMG (Anlage zu § 2 VersMedV) nach dem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin vom 18./19.3.1998.
4. Hat das SG rechtsfehlerhaft bewusst (dh rechtsirrtümlich) über einen Anspruchsteil (hier: über festzustellende Schädigungsfolgen) nicht entschieden, weil es eine Entscheidung darüber nicht für geboten hielt, so kann und muss das LSG auch den noch in der ersten Instanz anhängigen Rest zum Gegenstand seiner Nachprüfung machen (sog "Heraufholen von Prozessresten"; Abgrenzung zu BSG vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R = BSGE 118, 63 zur Beschränkung des Feststellungsantrags im Berufungsverfahren).
5. Eine isolierte Feststellungklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG ist auch dann zulässig, wenn der Anspruch nach § 10a Abs 1 OEG letztlich noch von weiteren Voraussetzungen abhängt (so auch LSG Celle-Bremen vom 30.6.2022 - L 10 VE 58/18).
Tenor
Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14. September 2017 wie folgt geändert:
Der Bescheid des Versorgungsamtes Cottbus vom 30. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Soziales und Versorgung Cottbus vom 25. März 2014 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge festzustellen und diese seit März 2012 mit einem Grad der Schädigungsfolgen von zumindest 50 zu bewerten.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 14. September 2017 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie um die Gewährung von Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG).
Die E. geborene Klägerin beantragte im März 2012, ihr Leistungen nach dem OEG zu gewähren, da sie in ihrer Jugend von ihrem Vater sexuell missbraucht und gewalttätig behandelt worden sei. Das damals zuständige Land Brandenburg leitete Ermittlungen ein und zog insbesondere medizinische Unterlagen über die Behandlungsgeschichte der Klägerin bei.
Hieraus ergibt sich unter anderem folgendes: Die Klägerin, die ausgebildete Wirtschaftsassistentin und Physiotherapeutin ist, ist auf dem Gebiet des heutigen Landes Brandenburg in der damaligen DDR geboren worden. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr lebte sie mit ihrer Mutter, ihrer später geborenen Schwester und ihrem leiblichen Vater zusammen. Dann trennte sich die Mutter von dem leiblichen Vater. Die Klägerin lebte zunächst mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zusammen. Später zog sie mit Mutter und Schwester zu ihrem Stiefvater. Die Klägerin hat das Elternhaus im 16. Lebensjahr verlassen und vor ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin eine Ausbildung zur Wirtschaftsassistentin absolviert. Die Klägerin bezieht seit Februar 2012 Er...