Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Kostenübernahme. Gehörlosennotrufanlage

 

Orientierungssatz

Zum Anspruch einer gehörlosen Versicherten auf Kostenübernahme einer Gehörlosennotrufanlage gegenüber ihrer Krankenkasse.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 9. April 2008 und die Bescheide der Beklagten vom 12. Januar 2006 und 29. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 2007 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Gehörlosennotrufanlage gemäß Kostenvoranschlag vom 15. Dezember 2005 zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Kostenübernahme für ein Personenrufsystem.

Bei der am 12. November 1963 geborenen Klägerin besteht eine völlige Schwerhörigkeit und eine Gangstörung unklarer Genese mit Gangunsicherheit und Verlust des Gleichgewichts. Sie ist in die Pflegestufe 2 eingestuft und u.a. mit einer Lichtklingelanlage und einem Rollstuhl versorgt. Ferner besteht ein Notrufsystem zum Malteserhilfsdienst, der mit den Schwiegereltern der Klägerin verbunden ist. Der die Klägerin pflegende Ehemann ist ebenfalls taub.

Das Sankt Elisabeth-Stift, I., verordnete der Klägerin am 12. Dezember 2005 eine Gehörlosennotrufanlage. Nach dem Kostenvoranschlag vom 15. Dezember 2005 beinhaltet diese einen Funkpersonenrufsender (79,-- €) und drei Funkempfänger (zwei tragbare Funkempfänger - 232,-- €, Converter Funkempfänger - 102,-- € -) (insgesamt 413,-- €). Die Beklagte holte Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 22. Dezember 2005 und 12. Januar 2006 ein und lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheiden vom 12. Januar 2006 und 29. Dezember 2006 ab, da eine medizinische Notwendigkeit des Personenrufsystems nicht nachvollziehbar sei. In ihrem Widerspruch vom 6. November 2006 machte die Klägerin geltend, dass sich ihr körperlicher Zustand verschlechtert habe und sie nicht in der Lage sei, nach häuslichen Stürzen alleine aufzustehen. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin vom 2. Februar 2006 mit Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 2007 zurück. Sie führte zur Begründung aus, dass die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nicht vorlägen. Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens begründeten keine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Sie könnten auch von Gesunden benutzt werden. Ein handelsübliches Gegensprechsystem (Babyfon) sei ebenfalls geeignet und ausreichend. Bei dem beantragten Personenrufsystem handele es sich deshalb um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens.

Hiergegen hat die Klägerin am 16. März 2007 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben. Sie hat ärztliche Stellungnahmen des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. J., K., vom 30. März 2006 und 27. März 2008 vorgelegt und vorgetragen, dass sie die beantragte Zusatzanlage zum Hörgeschädigtenlichtklingelsystem benötige. Sie sei durch ihre Hör- und Sehstörung und die Gangstörung stark beeinträchtigt. Wegen der Stürze sei es notwendig, dass sie sich über den Gehörlosennotruf, der taktile oder Lichtsignale sende, bemerkbar machen könne. Ihr Ehemann sei ebenfalls taub und könne nach Stürzen ihr Rufen oder Klopfen nicht hören.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 9. April 2008 abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass das Bundessozialgericht (BSG) zwar mit Urteil vom 17. September 1986 eine Lichtklingelanlage als Leistungsgegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung angesehen habe, diese Rechtsprechung aber mit Urteil vom 6. August 1998 wieder aufgegeben habe. Danach seien Gegenstände, die mit einer Wohnung fest verbunden seien, keine Hilfsmittel iS des Gesetzes. Hilfsmittel iS des § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) seien Gegenstände, die der Behinderte am Körper mit sich trage, d.h. auch außerhalb der eigenen Wohnung. Treppen, Lifte und eine Klingelleuchte seien keine Hilfsmittel i.S. des Gesetzes mehr, die Körperfunktionen unmittelbar ersetzten. Vorliegend solle keine Körperfunktion der Klägerin ausgeglichen werden, sondern eine des Ehemannes. Gegenstand der Klage sei letztlich ein Hilfsmittel für diesen, nicht für die Klägerin selbst.

Gegen das ihr am 22. April 2008 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. Mai 2008 Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt und zur Begründung ausgeführt, dass es sich bei dem beantragten Gerät um einen tragbaren Funkempfänger handele. Dieser sei eben nicht mit einem in einem Gebäude fest installierten Treppenlift zu vergleichen. Die Anlage diene dazu, der Klägerin aufgrund der beeinträchtigten Kommunikationsfähigkeit die Möglichkeit zu geben, einen Hilferuf abzusetzen. Dabei könne es nicht entscheidend sein, ob dieser Hilferuf bei dem Empfänger als optischer oder akustischer Ruf ankomme.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vo...

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