Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Vernachlässigung eines Säuglings durch die Eltern. Unterernährung. unzureichende Pflege. Vorenthaltung der emotionalen Zuwendung. kein vorsätzlicher tätlicher Angriff bei Überforderung der Eltern. schädigender Vorgang. Handlungsbündel nicht ausreichend

 

Orientierungssatz

1. Die Vernachlässigung des Kindes durch die Eltern in Gestalt unzureichender Ernährung und Pflege ist kein vorsätzlicher tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG, wenn die Eltern kein Bewusstsein für die dadurch erfolgte gesundheitliche Schädigung des Kindes hatten und mit der Verantwortung für den Säugling überfordert waren.

2. Die Vorenthaltung der für das psychische Wohlbefinden eines Kindes notwendigen emotionalen Zuwendung durch die Eltern erfüllt ebenfalls nicht die Voraussetzungen eines tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG.

3. Der schädigende Vorgang iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG umfasst nur den konkreten tätlichen Angriff und das diesem unmittelbar folgende gewaltgeprägte Geschehen (vgl BSG vom 7.4.2011 - B 9 VG 2/10 R = BSGE 108, 97 = SozR 4-3800 § 1 Nr 18), sodass gewaltsame Schläge des Vaters nicht zusammen mit einer Vernachlässigung des Kindes zu einem "Handlungsbündel" zusammengefasst werden können.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 23.03.2015; Aktenzeichen B 9 V 48/14 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 25.5.2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der im Säuglingsalter von seinen leiblichen Eltern gesundheitlich geschädigte Kläger begehrt von dem Beklagten Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der Kläger kam 2004 mit einem Geburtsgewicht von 3.800 g als erstes Kind des M. D. (geb. 1983) und der A.K. (geb. 1984) - die seit 2006 verheiratet sind und weitere Kinder haben - zur Welt und lebte mit ihnen in der gemeinsamen Wohnung in B..

Am frühen Morgen des 14.2.2004 wurde der Kläger mit einem Rettungswagen in die kinderchirurgische Klinik des G...-Krankenhauses in B. eingeliefert und dort bis zum 25.2.2004 stationär behandelt. Im Entlassungsbericht der Stationsärztin Dr. K. vom 24.2.2004 ist als Anamnese angegeben, der Vater habe das Kind gegen 2:30 Uhr zum Füttern aus dem Bett genommen. Es habe sich dabei komisch bewegt, woraufhin der Vater fest zugefasst habe. Danach sei eine Fehlstellung des rechten Oberarms aufgefallen. Der Säugling sei anschließend noch gefüttert und dann per Rettungswagen in der Notfallambulanz des Krankenhauses eingetroffen. Als Aufnahmebefund ist in dem Entlassungsbericht angegeben: “6 Wochen alter Säugling in deutlich reduziertem AZ und EZ. Ungepflegt. Grau-blasses Hautkolorit, stehende Hautfalten. Mundschleimhaut trocken, dick weiß belegt. Hämatome im Bereich beider Ohren. ... Deutliche Fehlstellung im Bereich des rechten Oberarmes mit schmerzhafter Bewegungsaufhebung und deutlicher Crepitation bei intakten DMS-Zeichen peripher. Ausgeprägte Windeldermitis. Aufnahmegewicht: 3.600 g.„ Als Diagnosen wurden genannt:

- dislozierte (mit Verschiebung der Bruchenden gegeneinander einhergehende) Oberarmschaftfraktur rechts

- Verdacht auf Battered-Child-Syndrom (Verdacht auf Kindesmisshandlung)

- Dystrophie (Mangelernährung)

- Exsikkose (Austrocknung)

- Mundsoor (Pilzbefall der Schleimhaut der Mundhöhle)

- Windeldermitis

- Hämatome (Blutergüsse) beider Ohren.

Das zuständige Jugendamt nahm den Kläger in Obhut und er wurde am 25.2.2004 in gutem Allgemeinzustand in eine Bereitschaftspflegefamilie entlassen. Im Sommer 2004 kam der Kläger zu den regulären Pflegeeltern, die ihn später adoptierten und deren Familiennamen er heute trägt.

In der bei dem Amtsgericht B. vom Jugendamt anhängig gemachten Familiensache betreffend den Kläger ... wurde das rechtsmedizinische Gutachten der PD Dr. Pf. und des Prof. Dr. Dr. B. vom 8.4.2004 eingeholt, welches zu dem Ergebnis gelangte, dass es sich bei den klinisch erhobenen Befunden um eindeutige Misshandlungsfolgen in Form von grober mechanischer Gewalteinwirkung gegen den rechten Oberarm und gegen beide Ohren des Klägers sowie in Form einer schweren Vernachlässigung durch unzureichende Gabe von Nahrung und Flüssigkeit sowie um nicht hinreichende körperliche Pflegemaßnahmen handele. Es handele sich um eindeutige Folgen schwerer Misshandlung und Vernachlässigung.

Weiterhin wurde in dem familiengerichtlichen Verfahren zur Beurteilung der Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern (nachfolgend als “Eltern„ bezeichnet) des Klägers das psychologische Gutachten des Diplom-Psychologen K. vom 13.5.2004 eingeholt. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die Eltern des Klägers nicht erziehungsgeeignet seien, weil sie die Bedürfnisse eines Säuglings überhaupt nicht erkennen könnten. Beide seien hoffnungslos überfordert mit der Verantwortungsübernahme für ein Kleink...

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