Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme der Leistungsbewilligung. Verschweigen von Erwerbseinkommen. Zurechnung des Verschuldens eines Bevollmächtigten
Leitsatz (amtlich)
1. Das Verschulden eines Bevollmächtigten (hier: unrichtige bzw unvollständige Angaben iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X) kann nach den allgemeinen Regeln ( §§ 166,278 BGB) dem Vollmachtgeber zugerechnet werden, wenn dieser eine Vollmacht zur Abmeldung aus dem Leistungsbezug erteilt hat, der Bevollmächtigte aber im Innenverhältnis gegenüber dem Vollmachtgeber seine Pflichten verletzt.
2. Eine zuvor erteilte Vollmacht sowie eine über Jahre gelebte Bevollmächtigung kann dazu führen, dass dem Bevollmächtigten weitere Handlungen, des (mittlerweile) vollmachtlosen Vertreters - wie zB das Stellen weiterer Anträge - im Rahmen sogenannter Anscheinsvollmacht zugerechnet werden, wenn der Vollmachtgeber dem von ihm gesetzten Rechtsschein nicht entgegentritt.
Normenkette
SGB 2 § 40 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 3, § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 9 Abs. 1, § 11 Abs. 1 S. 1; SGB X § 45 Abs. 1, 2 S. 3 Nr. 2, § 13 Abs. 1; SGB I § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; SGB III § 330 Abs. 2; BGB § 278 S. 1, § 164 Abs. 1, § 166 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Hannover (Urteil vom 27.04.2022; Aktenzeichen S 43 AS 2867/18) |
Tenor
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 27. April 2022 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerinnen wenden sich gegen Aufhebungsentscheidungen bzgl. Grundsicherungsleistungen im Zeitraum Dezember 2008 bis Oktober 2010 im Rahmen eines Überprüfungsantrages.
Die 1975 geborene Klägerin zu 1. und ihre im November 2006 geborene Tochter, die Klägerin zu 2., standen seit August 2005 zusammen mit dem damaligen Lebensgefährten der Klägerin zu 1. und dem Vater der Klägerin zu 2., Herrn K. L., im Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) beim Beklagten.
Herr L. trat seit der ersten Antragstellung im Jahr 2005 gegenüber dem Beklagten alleine auf. Die Anträge auf Grundsicherungsleistungen wurden jeweils allein von ihm unterschrieben (vgl. Antrag aus August 2005, Bl. 1 der Verwaltungsakte). Dementsprechend wurde er auch als Kopf der Bedarfsgemeinschaft geführt.
In einem Schreiben an den Beklagten auf eine Anhörung hin, baten die Klägerin zu 1. und Herr L., dass nicht zwei Anschreiben gefertigt werden sollen (Bl. 202 der Verwaltungsakte). Den Weiterbewilligungsantrag im August 2008 stellte wieder Herr L. für die Bedarfsgemeinschaft (Bl. 217 der Verwaltungsakte).
Der Beklagte bewilligte der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheiden vom 11. November 2008, 19. Januar 2009, 15. Juni 2009, 17. Dezember 2009, 24. März 2010 und 16. September 2010 Grundsicherungsleistungen für Dezember 2008 bis Oktober 2010. Der Beklagte berücksichtigte im Rahmen der Leistungsbewilligung für die Klägerinnen und Herrn L. neben dem jeweiligen Regelbedarf Kosten der Unterkunft in Höhe von ca. 433,00 Euro. Für die Klägerin zu 2. wurde Kindergeld gezahlt. Weiteres Einkommen berücksichtigte der Beklagte in den Leistungsbewilligungen ab Dezember 2008 nicht.
Insoweit errechnete der Beklagte einen monatlichen Leistungsanspruch der Klägerinnen und Herrn L. in Höhe von ca. 1.122,00 Euro bis ca. 1.238,00 Euro.
Im November 2008 nahm die Klägerin zu 1. eine abhängige Beschäftigung auf, aus der ihr ab Dezember 2008 Erwerbseinkommen in folgender Höhe ausgezahlt wurde:
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Brutto in Euro |
Netto in Euro |
Sonstige Leistungen in Euro |
Dezember 2008 |
2.398,28 |
1.602,70 |
211 |
Januar 2009 |
2.187,28 |
1.409,71 |
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Februar 2009 |
2.187,28 |
1.409,71 |
|
März 2009 |
2.187,28 |
1.409,71 |
|
April 2009 |
2.187,28 |
1.409,71 |
|
Mai 2009 |
2.187,28 |
1.409,71 |
|
Juni 2009 |
2.306,52 |
1.466,71 |
119,24 |
Juli 2009 |
2.291,59 |
1.466,69 |
|
August 2009 |
2.291,59 |
1.466,69 |
|
September 2009 |
2.291,59 |
1.466,69 |
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Oktober 2009 |
2.291,59 |
1.466,69 |
|
November 2009 |
3.406,09 |
2.001,98 |
1.114,50 |
Dezember 2009 |
2.591,59 |
1.706,01 |
300 |
Januar 2010 |
2.291,59 |
1.431,58 |
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Februar 2010 |
2.291,59 |
1.500,60 |
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März 2010 |
2.322,00 |
1.516,22 |
|
April 2010 |
2.322,00 |
1.516,22 |
|
Mai 2010 |
2.322,00 |
1.516,22 |
|
Juni 2010 |
3.436,50 |
2.083,57 |
1.114,50 |
Juli 2010 |
2.322,00 |
1.516,22 |
|
August 2010 |
2.322,00 |
1.516,22 |
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September 2010 |
2.322,00 |
1.516,22 |
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Oktober 2010 |
2.322,00 |
1.516,22 |
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Dieses wurde jeweils im nachfolgenden Monat ausgezahlt.
Sie bat ihren damaligen Lebensgefährten, dies dem Beklagten mitzuteilen und die Bedarfsgemeinschaft aus dem Leistungsbezug abzumelden. Hierzu übergab sie ihm einen Briefumschlag mit Einkommensnachweisen (vgl. Sitzungsniederschrift vom 27. April 2022, Bl. 62 der Gerichtsakte).
Dieser Bitte kam Herr L. jedoch nicht nach, sodass der Beklagte weiter Leistungen bewilligte und zahlte. Als dies der Klägerin zu 1. nach weiteren drei Monaten auffiel, sprach diese ihren Lebensgefährten darauf an (vgl. Klagebegründung Bl. 9 der Gerichtsakte sowie Sitzungsniederschrift, Bl. 62 der Gerichtsakte). Herr L. leitete die Leistungen daraufhin auf ein anderes Konto um oder ließ sic...