Entscheidungsstichwort (Thema)

Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben. Ausbildungsgeld. keine Anrechnung von Elterneinkommen bei Begründung eines eigenen Haushalts. verheiratete zusammenlebende Eltern. Gleichstellung mit getrennt lebenden Eltern. Verfassungsmäßigkeit. Gesamtbedarf

 

Orientierungssatz

Auf das Ausbildungsgeld eines behinderten Menschen, der in einem eigenen Haushalt lebt, ist das Einkommen der verheirateten zusammenlebenden Eltern nicht anzurechnen (vgl LSG Mainz vom 22.11.2012 - L 1 AL 39/12).

 

Normenkette

SGB III §§ 122, 126 Abs. 2 Nr. 2, § 56 Abs. 1 Nr. 3, § 67 Abs. 1 Nr. 3; GG Art. 6 Abs. 1

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 14.05.2014; Aktenzeichen B 11 AL 20/13 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 10. Januar 2013 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte erstattet der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens in vollem Umfang.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Ausbildungsgeld für die Zeit vom 1. März 2012 bis 31. August 2013.

Die 1992 geborene Klägerin leidet unter einer seelischen Behinderung (schwere Depressionen seit Januar 2009). Sie absolviert seit dem 1. September 2010 eine Ausbildung zur Bürokauffrau beim H. -Berufsbildungswerk in I. Nachdem sie im August 2013 die Abschlussprüfung nicht bestanden hat, bereitet sie sich derzeit auf die Wiederholungsprüfung vor. Sie wohnte zunächst im Internat des Berufsbildungswerkes. Seit Mai 2012 lebt sie in einer eigenen Wohnung in der J. in I. (Monatsmiete: 500,-- Euro inklusive Nebenkosten). Hauptwohnsitz der Klägerin ist nach wie vor das ca. 300 km vom Ausbildungsort entfernte Elternhaus in K. (Kreis L.).

Die Lehrgangskosten sowie Fahrtkosten (Familienheimfahrten) werden durchgängig von der Beklagten getragen. Für die Zeit vom 1. September 2010 bis 29. Februar 2012 bewilligte die Beklagte zudem Ausbildungsgeld in Höhe von 104,-- Euro pro Monat (vgl. im Einzelnen: Bewilligungsbescheide vom 21. September 2010, 22. Februar 2011 und 29. September 2011). Dagegen wurde die Weitergewährung von Ausbildungsgeld für die Zeit ab 1. März 2012 mit der Begründung abgelehnt, dass der Klägerin unter Berücksichtigung des Einkommens ihrer in einem gemeinsamen Haushalt in K. lebenden Eltern ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung ständen (bestandskräftiger Bescheid vom 6. Dezember 2011).

Nach dem Umzug der Klägerin in eine eigene Wohnung erließ die Beklagte den im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheid vom 8. Mai 2012 (“Änderungsbescheid zum Bescheid vom 6. Dezember 2011„). Mit diesem Bescheid wurden erneut die Lehrgangskosten für die Zeit von Mai 2012 bis August 2013 übernommen und erneut die Gewährung von Ausbildungsgeld für die Zeit vom 1. März 2012 bis 31. August 2013 abgelehnt. Hierbei berücksichtigte die Beklagte für die Zeit ab Mai 2012 einen Bedarf der Klägerin in Höhe von insgesamt 572,-- Euro (Bedarf bis einschließlich 30. April 2012: 104,-- Euro).

Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, dass die Beklagte zu Unrecht Einkommen ihrer Eltern angerechnet habe. Dies widerspreche der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Mai 2010 (B 7 AL 36/08 R), wonach bei einem behinderten Menschen, der bei keinem Elternteil lebt, das Einkommen der Eltern nicht anzurechnen sei.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. August 2012 zurück. Bei einem zu berücksichtigenden Einkommen der Eltern von monatlich 3.648,37 Euro verbleibe nach Abzug der Freibeträge ein übersteigendes Einkommen von 653,19 Euro, wodurch der Bedarf der Klägerin gedeckt sei. Das von der Klägerin angeführte BSG-Urteil sei nicht einschlägig, da in dem dort entschiedenen Fall die Eltern des Behinderten getrennt gelebt hätten.

Hiergegen hat die Klägerin am 24. September 2012 beim Sozialgericht (SG) Lüneburg Klage erhoben. Unter erneuter Bezugnahme auf die o.g. BSG-Entscheidung hat sie geltend gemacht, weder bei ihren Eltern zu leben noch aufgrund der örtlichen Lage ihres Ausbildungsortes dort leben zu können. Dementsprechend dürfe das Elterneinkommen nicht auf ihren Bedarf angerechnet werden.

Das SG hat der Klage mit Urteil vom 10. Januar 2013 stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zur Gewährung von Ausbildungsgeld im gesetzlichen Umfang ohne Anrechnung von Elterneinkommen für die Zeit vom 1. März 2012 bis 31. August 2013 verurteilt. Nach dem Urteil des BSG vom 18. Mai 2010 sei § 126 Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) dergestalt auszulegen, dass das Einkommen der Eltern nicht auf das Ausbildungsgeld angerechnet werden dürfe, wenn der behinderte Auszubildende in einem eigenen Haushalt lebe. Der Gesetzgeber habe durch § 126 Abs 2 SGB III behinderte Menschen gegenüber Beziehern von Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) besser stellen wollen (Urteil vom 10. Januar 2013).

Gegen das der Beklagten am 17. Januar 2013 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 31...

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