Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. möglicher sexueller Missbrauch in der Jugend. Beitrittsgebiet. Härteregelung nach § 10a OEG. Schwerbeschädigung mit einem GdS von 50. posttraumatische Belastungsstörung. Erstmanifestation. lange Zeitdauer zwischen Trauma und Erkrankungsbeginn. beschwerdefreies Intervall von 25 Jahren. aussagepsychologisches Gutachten nach Aktenlage. Erlebnisfundiertheit der Aussage. mögliche Vernehmung von Familienangehörigen als Zeugen. Ablehnung seitens des Anspruchstellers. keine Anwendung der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. sozialgerichtliches Verfahren. isolierte Feststellungsklage. Elementenfeststellung. Feststellung des Vorliegens eines tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG. Verbindung mit Antrag auf Zuerkennung von bestimmten Schädigungsfolgen. zulässige Klage. Erfüllung der weiteren Voraussetzungen des § 10a OEG für Zulässigkeit nicht erforderlich

 

Orientierungssatz

1. Ein langer Zeitraum zwischen der angeschuldigten Tat und dem Beginn einer psychischen Erkrankung (hier: beschwerdefreies Intervall von 25 Jahren) kann gegen die Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sprechen (vgl Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 2.12.2008 über die Tagungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin vom 6./7.11.2008 und vom 12./13.11.1997, in welchem von einem Zeitraum "in der Regel innerhalb von 3 Monaten" nach dem erlittenen Trauma ausgegangen wird).

2. Allein durch die Kritik an einem aussagepsychologischen Gutachten nach Aktenlage wird nicht positiv die Erlebnisfundiertheit der Behauptungen des Antragstellers belegt.

3. Die Ablehnung des Anspruchstellers, Familienangehörige als mögliche Zeugen zu vernehmen, kann nicht zu der Annahme des fehlenden (Zeugen-)Beweises führen, wie ihn § 15 KOVVfG im Blick hat.

4. Die Feststellung, ob ein bestimmtes Ereignis ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG ist, kommt im Zusammenhang mit der Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen sehr wohl in Betracht (vgl BSG vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R).

5. Eine isolierte Feststellungklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG ist auch dann zulässig, wenn der Anspruch nach § 10a Abs 1 OEG letztlich noch von weiteren Voraussetzungen (Schwerbeschädigung und Bedürftigkeit) abhängt.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 18.01.2023; Aktenzeichen B 9 V 29/22 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 16. Oktober 2018 aufgehoben.

Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Beschädigtenrente und Heilbehandlung nach den Vorschriften des Opferentschädigungsgesetzes (OEG).

Die 1966 geborene Klägerin beantragte im Mai 2010 bei dem Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie (Niedersächsisches Landesamt) Beschädigtenversorgung nach dem OEG mit der Begründung, sie sei seit dem 12. Lebensjahr in der ehemaligen DDR in H. bei Cottbus regelmäßig von ihrem Schwager I. missbraucht worden. Dieser Missbrauch habe bis zu ihrem 17. Lebensjahr angedauert. Sie gehe davon aus, dass ihr am J. geborener Sohn, K., von ihrem Schwager gezeugt worden sei. Ihr Sohn habe mit seinem 18. Lebensjahr einen Vaterschaftstest durchführen lassen, wobei sich herausgestellt habe, dass ihr früherer Freund nicht der Vater dieses Kindes sei. Da sie in der Empfängniszeit mit niemandem weiter Geschlechtsverkehr gehabt habe, komme nur noch ihr Schwager in Betracht. Seitdem ihr dieses bewusst sei, leide sie an starken Depressionen und habe psychische Probleme. Ihr damaliger Freund habe eine Vaterschaftsaberkennungsklage und auch eine Klage auf Rückerstattung des gezahlten Unterhalts gegen sie geführt. Nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle müsse sie den für L. erhaltenen gesamten Unterhalt an ihren früheren Freund zurückzahlen. Dies könne sie nicht verstehen. Ihr Schwager sei 2000 verstorben, Anzeige gegen ihn habe sie nie erstattet.

Das Niedersächsische Landesamt leitete den Antrag der Klägerin mit Rücksicht auf den Tatort in Brandenburg an das Landesamt für Soziales und Versorgung Brandenburg weiter (Versorgungsamt Cottbus). Dieses führte Ermittlungen durch und forderte die Klägerin im Juni 2010 zu weiteren Angaben hinsichtlich der angeschuldigten Taten auf. Diese teilte mit, Zeugen seien nicht vorhanden, sie habe sich niemandem anvertrauen können, weil der Täter bei der Stasi gewesen sei. Das Geschehen sei die ganzen Jahre wie eine Blockade gewesen; erst, als sie erfahren habe, dass der Täter seine eigene Tochter missbraucht habe, sei alles in ihr aufgebrochen und sie habe ihn anzeigen wollen. Wegen seines Todes sei es dazu nicht mehr gekommen. Mit Bescheid vom 2. August 2011 lehnte das Versorgungsamt Cottbus den Antrag auf Versorgung ab, weil nach den vorliegenden Unterlagen eine eindeutige Klärung des schädigenden Ereignisses nicht ...

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