Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Statthaftigkeit der Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Befangenheitsgesuchs
Orientierungssatz
Die Beschwerde gegen einen Beschluss des Sozialgerichts, mit dem ein Befangenheitsgesuch gegen einen Richter zurückgewiesen wurde, ist - entgegen § 172 Abs 2 SGG - statthaft.
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 07.03.2012 wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Mit Schreiben vom 07.02.2012 hat der Kläger den derzeit beim Sozialgericht (SG) Duisburg tätigen Richter am Landessozialgericht M wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Das SG hat den Antrag zurückgewiesen (Beschluss vom 07.03.2012). Anhaltspunkte für eine herkunftsbezogene Diskriminierung des Klägers durch den abgelehnten Richter oder dessen unsachliche Einstellung bzw. willkürliches Verhalten fänden sich nicht. In der Rechtsmittelbelehrung wird darauf hingewiesen, dass der Beschluss gemäß § 172 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht anfechtbar ist. Diese Entscheidung hat der Kläger am 10.03.2012 mit der Beschwerde angegriffen. In der Sache hat er trotz Aufforderung mit Fristsetzung nicht weiter vorgetragen.
II.
Die Beschwerde ist statthaft und im Übrigen zulässig (nachfolgend 1.), sie ist indes unbegründet (nachfolgend 2.).
1. Die Beschwerde ist statthaft.
a) Durch Art. 8 Ziffer 4b) i. V. m. Art. 23 des Vierten Gesetz zur Änderung des Vierten Buches des Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22.12.2011 (4. Gesetz zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze) ist § 60 Abs. 1 Satz 2 SGG ("Über die Ablehnung entscheidet außer im Falle des § 171 das Landessozialgericht durch Beschluss.") mit Wirkung zum 01.01.2012 aufgehoben worden (BGBI I 3057). Seither ist das SG funktionell zuständig, über Befangenheitsanträge gegen Richter/innen erster Instanz zu entscheiden. Ob und inwieweit diese Entscheidung mit der Beschwerde angegriffen werden kann, ist dem Gesetz nicht mit der gebotenen Deutlichkeit zu entnehmen.
b) Zur Überzeugung des Senats ist die Beschwerde aus nachfolgenden Gründen statthaft:
aa) Nach § 46 Abs. 2 Zivilprozessordung (ZPO) findet gegen einen Beschluss, durch den das Befangenheitsgesuch für begründet erklärt wird, kein Rechtsmittel und gegen den Beschluss, durch den das Gesuch für unbegründet erklärt wird, die sofortige Beschwerde statt (hierzu § 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Infolge von Art. 8 Nr. 4 Ziff. a) des 4. Gesetzes zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze wurden in § 60 Abs. 1 SGG die Wörter "§§ 41 bis 44, 45 Abs. 2 Satz, §§ 47 bis 49" durch die Angabe "§§ 41 bis 49" ersetzt. Nunmehr lautet § 60 Abs. 1 SGG: "Für die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen gelten die §§ 41 bis 49 der Zivilprozessordnung entsprechend." Demzufolge ist § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO nach dem eindeutigen Wortlaut in Bezug genommen und die Beschwerde unter den genannten Voraussetzungen statthaft.
bb) Gegenläufig bestimmt allerdings § 172 Abs. 2 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26.03.2008 (BGBl. I 444), dass u. a. Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der Beschwerde angefochten werden können. In diesem Zusammenhang heißt es im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum 4. Gesetz zur Änderung des SGB IV und anderer Gesetze (BR-Drs. 315/11, S. 40; BT-Drs. 17/6764, S. 27):
Da § 46 Zivilprozessordnung (ZPO) für entsprechend anwendbar erklärt wird, ist die bisher in Satz 2 enthaltene Regelung entbehrlich. § 172 Absatz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geht als speziellere Norm dem § 46 Absatz 2 ZPO vor, so dass weiterhin Beschlüsse über die Ablehnung von Gerichtspersonen nicht mit der Beschwerde angefochten werden können.
Dies zugrunde gelegt hat der Gesetzgeber einerseits eine eindeutige Regelung getroffen, nämlich Statthaftigkeit der Beschwerde (§ 60 Abs. 1 SGG i.V.m. § 46 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO), andererseits steht dem § 172 Abs. 2 SGG mit dem darin formulierten Beschwerdeausschluss entgegen. Die Gesetzesbegründung (s. soeben) favorisiert § 172 Abs. 2 SGG auf der Grundlage insoweit unterstellter Gesetzesspezialität. Ob und inwieweit dies zutrifft, ist zu prüfen.
(1) Dabei gilt vorab: Die Meinungsäußerung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane bzw. von Mitgliedern dieser Organe ist zwar zur Kenntnis zu nehmen, sie ist indes für die Auslegung der maßgebenden Vorschriften von nachrangiger Bedeutung. Motive, die in Gesetzentwürfen zum Ausdruck kommen und die in der Regel in Ministerien formuliert werden, können nicht kurzerhand jenen Personen untergeschoben werden, die den Gesetzbeschluss gefasst haben (Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Auflage, 2006, S. 24). Es kommt ferner nicht darauf an, was der Gesetzgeber regeln wollte oder meint, geregelt zu haben, sondern auf den durch das Gericht im Wege der Auslegung zu ermittelnden Inhalt des Gesetzes selbst, den "objektivierten Willen des Gesetzgebers", in dessen Bestimmung die Motive des Ges...