Entscheidungsstichwort (Thema)

Dauer des Anspruchs des zur Ausreise verpflichteten Ausländers auf Leistungen der Sozialhilfe bei Klage gegen die angedrohte Abschiebung zum Verwaltungsgericht

 

Orientierungssatz

1. Nach § 23 Abs. 3 S. 1 SGB 12 erhalten Ausländer u. a. dann keine Leistungen der Sozialhilfe, wenn sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.

2. Vom Fehlen eines Aufenthaltsrechts i. S. von § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB 12 ist erst bei Vorliegen einer vollziehbaren Entscheidung der Ausländerbehörde gemäß § 7 FreizügG auszugehen.

3. Hat der zur Ausreise Verpflichtete Klage gegen die angedrohte Abschiebung zum Verwaltungsgericht erhoben, so kommt dieser aufschiebende Wirkung zu, mit der Folge, dass eine materielle Ausreisepflicht bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlustfeststellung nicht besteht.

4. Dementsprechend entfaltet bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Verlustfeststellung keine entsprechende Tatbestandswirkung im Rahmen von § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB 12.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 05.11.2020 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII.

Die 1942 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Ihre in Deutschland lebenden Söhne B T, L T und U T besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Jedenfalls der Sohn L bezieht Leistungen nach dem SGB II. Die Antragstellerin erhält eine polnische Altersrente i.H.v. monatlich 1.256,50 Zloty (derzeit rund 276 EUR). Die Antragstellerin ist in Polen krankenversichert. Ausweislich eines ärztlichen Attestes bestehen bei ihr ein Diabetes mellitus Typ II, eine Harninkontinenz sowie eine Alzheimer-Krankheit mit Demenz.

Im August 2019 reiste die Antragstellerin in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seither wohnt sie in der Wohnung ihres Sohnes L in X. Für diese 44 m² große Wohnung fallen nach ihren Angaben monatliche Kosten von 363,78 EUR an.

Einen Sozialhilfeantrag vom 07.11.2019 lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 09.01.2020 ab. Die Antragstellerin sei nicht freizügigkeitsberechtigt nach dem FreizügG/EU; nach § 23 Abs. 3 SGB XII sei sie deshalb von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen. Die Antragstellerin legte dagegen am 10.02.2020 Widerspruch ein.

Am 16.03.2020 beantragte die Antragstellerin zudem beim Sozialgericht Dortmund den Erlass einer einstweiligen Anordnung (Az. S 62 SO 120/20). Das Sozialgericht verpflichtete die Antragsgegnerin, vorläufig Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII für die Zeit vom 16.03.2020 bis zum 30.09.2020 zu erbringen.

Mit Bescheid vom 08.06.2020 stellte die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU den Verlust der Freizügigkeit der Antragstellerin fest und ordnete die sofortige Vollziehung an. Die Antragstellerin könne ihren Lebensunterhalt nicht durch ausreichende Existenzmittel sicherstellen. Hiergegen erhob die Antragstellerin am 16.06.2020 vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg Klage (Az. 3 K 1673/20). Am 26.06.2020 beantragte sie dort zudem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage, hilfsweise die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, höchst hilfsweise die Feststellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (Az. 3 L 551/20). In beiden Verfahren erging bislang keine Entscheidung. Die Antragstellerin legte dem Verwaltungsgericht ein Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Q vom 09.06.2020 vor. Danach hat sie sich an jenem Tag dort in der Sprechstunde vorgestellt. Anamnestisch bestehe ein Diabetes mellitus Typ II, eine Harninkontinenz sowie eine Demenz bei Alzheimer-Krankheit. Laut Angaben des Sohnes leide sie an progredienter Vergesslichkeit. Ein Alleinleben sei ihr nicht mehr möglich; sie sei 24 Stunden täglich auf Beaufsichtigung und fremde Hilfe angewiesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.07.2020 wies der Landrat des F-Kreises den Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 09.01.2020 zurück. Ein Anspruch auf Sozialhilfe sei ausgeschlossen, weil die Antragstellerin kein Aufenthaltsrecht in Deutschland habe (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB XII) und zudem eingereist sei, um Sozialhilfeleistungen zu erlangen (§ 23 Abs. 3 Nr. 4 SGB XII).

Am 04.09.2020 beantragte die Antragstellerin die Weiterzahlung der Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Diesen Antrag hat die Antragsgegnerin bislang nicht beschieden.

Am 15.09.2020 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Dortmund erneut um einstweiligen Rechtschutz nachgesucht. Ihr stehe ein Aufenthaltsrecht sowohl nach dem FreizügG/EU als auch nach § 36 Abs. 2 AufenthG zu. Hinsichtlich der Unterkunftskosten sei darauf hinzuweisen, dass wegen ihres Einzugs das Jobcenter für ihren Sohn L aktuell nur die hälftigen Unterkunfts...

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