Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Der EuGH hat mit Urteil vom 11. November 2014 C-333/13 entschieden, dass ein Leistungsausschluss für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger, die eingereist sind, um Sozialleistungen zu beziehen, ohne Arbeit zu suchen, mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist.

2. Personen, die sich allein zum Zweck der Arbeitsuche in einem anderen Unionsstaat aufhalten, müssen nach Gemeinschaftsrecht nach Ablauf einer dreimonatigen Frist über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügen.

3. Auf EU-Bürger ohne materielles Aufenthaltsrecht findet der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 keine Anwendung. Der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG umfasst bei Ausländern die Sicherstellung des Existenzminimums auch bei kurzer Aufenthaltsdauer. Bei offener Rechtsfrage können nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB 2 i. V. m. § 328 Abs. 1 Nr. 2 SGB 3 Leistungen der Grundsicherung vorläufig zugesprochen werden.

4. Bei der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen Folgenabwägung sind dem Antragsteller wegen des existenzsichernden Charakters Leistungen der Grundsicherung zu gewähren. Das fiskalische Interesse des Grundsicherungsträgers tritt hinter der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums für den Antragsteller zurück.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 40 Abs. 2 Nr. 1; SGB III § 328 Abs. 1 Nr. 2; SGB XII des § 23 Abs. 3 S. 1; SGG § 86b Abs. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 6, § 3 Abs. 2 Nr. 1; RL 2004/38/EG Art. 24

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 11.06.2015 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen für die Zeit vom 13.05.2015 bis zum 30.11.2015, längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Den Antragstellerinnen wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin U, L, bewilligt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragstellerinnen in beiden Rechtszügen zu erstatten. Den Antragstellerinnen wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin U, L, bewilligt.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerinnen begehren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes und Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren.

Die am 00.00.1994 geborene Antragstellerin zu 1) ist bulgarische Staatsangehörige und Mutter der am 00.00.2013 geborenen Antragstellerin zu 2) und der am 00.00.2014 geborenen Antragstellerin zu 3), die ebenfalls bulgarische Staatsangehörige sind. Die Antragstellerin zu 1) ist schwanger, errechneter Entbindungstermin ist der 30.09.2015. Vater der Kinder ist der bulgarische Staatsangehörige J. Die Antragstellerin zu 1) ist nach eigenen Angaben mit Herrn J "nach Roma-Sitte" verheiratet und hält sich bei den Eltern von Herrn J (den Großeltern der Antragstellerinnen zu 2) und 3)) auf, die in einer Flüchtlingsunterkunft leben. Die Großeltern erhalten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Nach Angaben des Antragsgegners lebt Herr J auch im Haushalt seiner Eltern, er bezog bis zum 28.02.2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, sein derzeitiges Einkommen sei unbekannt, weshalb die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerinnen zweifelhaft sei.

Die Antragstellerin zu 1) reiste im Oktober 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 27.11.2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Gegen die Ablehnungentscheidung ist beim Senat ein Berufungsverfahren anhängig (L 7 AS 443/15).

Infolge eines Eilbeschlusses des Sozialgerichts Köln vom 21.02.2013 (S 37 AS 351/13 ER) zahlte der Antragsgegner den Antragstellerinnen zunächst bis zum 31.12.2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Einen Fortzahlungsantrag vom 17.11.2014 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 30.12.2014 ab. Es bestehe kein Anspruch auf Leistungen, da sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Dagegen erhoben die Antragstellerinnen am 06.01.2015 Widerspruch. Bis einschließlich Februar 2015 zahlte der Antragsgegner Arbeitslosengeld II "ohne Anerkennung einer Rechtspflicht". Danach stellte er die Zahlungen ein.

Am 13.05.2015 haben die Antragstellerinnen beim Sozialgericht Köln beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen. Sie haben eine eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin zu 1) vorgelegt, wonach sie obdachlos gemeldet sei und daher kein Kindergeld o...

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