Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch des in einer Behindertenwerkstätte beschäftigten Behinderten auf Grundsicherungsleistungen bis zur Entscheidung in der Einigungsstelle. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Erwerbsfähigkeit. Werkstatt für Behinderte. Nahtlosigkeitsregelung. Einigungsstelle. Einstweilige Anordnung. Beiladung

 

Orientierungssatz

1. Die Agentur für Arbeit stellt nach § 44 a SGB 2 fest, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Die Vorschrift enthält eine Nahtlosigkeitsregelung. Danach wird bei einem Streit zwischen den Leistungsträgern der Grundsicherung und der Sozialhilfe die Erwerbsfähigkeit fingiert und die Leistungspflicht des Grundsicherungsträgers besteht solange, bis die Einigungsstelle entschieden hat.

2. Die Vorschrift des § 44 a Abs. 1 S. 3 SGB 2 gebietet eine weite Auslegung. Die Regelung kommt auch dann zur Anwendung, wenn der Grundsicherungsträger von einer fehlenden Erwerbstätigkeit ausgeht, sich aber nicht um eine Klärung der Angelegenheit mit dem zuständigen Leistungsträger des SGB 12 bemüht hat. Bis zum Abschluss des Verfahrens in der Einigungsstelle ist der Antragsteller so zu stellen, als wäre er erwerbsfähig.

3. Der Begriff der Erwerbsfähigkeit nach § 8 Abs. 2 SGB 2 ist eigenständig zu interpretieren. Bei einem Behinderten, der in einer Werkstätte für Behinderte arbeitet, kann nicht zwangsläufig ohne weitere Prüfung von einer Erwerbsunfähigkeit des Betroffenen ausgegangen werden. Vergleichsmaßstab ist die wirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 2, § 44a; SGB VI § 1 S. 1 Nr. 2, § 43 Abs. 2 S. 3 Nr. 1; SGG §§ 75, 86b Abs. 2

 

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 16.08.2010 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren.

 

Gründe

I.

Der Antragsgegner wendet sich gegen die vom Sozialgericht (SG) Duisburg im Beschluss vom 16.08.2010 ausgesprochene Verpflichtung, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren.

Bei dem 1986 geborenen Antragsteller ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Nachteilsausgleiche "G, B und H" festgestellt. Die Stadt I gewährte dem Antragsteller (Bescheide vom 27.06.2008 und 20.05.2009) von Juli 2008 bis Mai 2010 Eingliederungshilfe für eine vollstationäre Maßnahme nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).

Seit Februar 2010 ist der Antragsteller Beschäftigter im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen zur beruflichen Eingliederung (WfbM) nach § 40 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) im Haus G GmbH. Ein Entgelt wird von der Werkstatt nicht gezahlt. Der Antragsteller erhält Ausbildungsbeihilfe (Bescheid vom 11.03.2010) nach § 97 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in Höhe von derzeit monatlich 62,- EUR und Leistungen des ambulanten Betreuten Wohnens. Er bewohnt seit Juni 2010 eine eigene Wohnung in C, für die Kosten für Unterkunft und Heizung von monatlich 321,75 EUR entstehen.

Mit Bescheid vom 21.5.2010 hob die Stadt I die Eingliederungshilfe ab Juni 2010 auf.

Am 31.05.2010 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner Grundsicherung. Mit Bescheid vom 21.06.2010 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Der Antragsteller befinde sich im Eingangsbereich der WfbM. Damit verliere der Behinderte den Anspruch auf Grundsicherung. Hiergegen hat der Antragsteller am 13.07.2010 Widerspruch eingelegt.

Den Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) lehnte die Stadt I mit Bescheid vom 05.07.2010 ab. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass derjenige, der sich im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer WfbM befinde, eine Rehabilitationsmaßnahme durchlaufe. Daher habe der zuständige SGB II-Träger einzelfallbezogen zu prüfen, ob Erwerbsfähigkeit vorliege. Aus der Aufnahme in diesen Bereich folge nicht automatisch die Erwerbsunfähigkeit. Auf eine Nachfrage des Antragsgegners bei der Stadt I teilte diese im Schreiben vom 21.07.2010 mit, dass in Fallkonstellationen wie der des Antragstellers von der Arge Feststellungen zur Erwerbsfähigkeit zu treffen seien. Sollte der ärztliche Dienst des Antragsgegners nach Prüfung eine individuelle Aussage zur Erwerbsfähigkeit des Antragstellers treffen, könnte diese nach Vorlage akzeptiert werden.

Am 02.08.2010 hat der Antragsteller beim SG Duisburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, gerichtet darauf, ab Juni 2010 Leistungen zu erhalten. Das SG hat den Antragsgegner mit Beschluss vom 16.08.2010 ab 02.08.2010 vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller Grundsicherung zu gewähren.

Hiergegen hat der Antragsgegner am 10.09.2010 Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, es sei von der Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers während der gesamten Tätigkeit des Behinderten in der WfbM auszugehen und zwar auch dann, wenn ein Übergang zum Arb...

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