Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für einen arbeitsuchenden Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Nach der über § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB 2 anwendbaren Vorschrift des § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB 3 kann über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens vor dem BVerfG oder dem EuGH ist. Die Frage der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht ist Gegenstand eines Vorlagebeschlusses beim EuGH.

2. Leistungsbescheide einer Behörde über vorläufige Leistungen werden durch die endgültige Festsetzung ersetzt und erledigen sich damit auf sonstige Weise i. S. des § 39 Abs. 2 SGB 10. Für die Dauer des Vorlageverfahrens bleibt, solange ein ergangener Ablehnungsbescheid nicht bestandskräftig geworden ist, Raum für eine Ermessensentscheidung, ob und gfs. in welcher Höhe dennoch Leistungen gewährt werden.

3. Im Unterschied zu § 42 SGB 1 setzt § 328 Abs. 1 Nr. 1 SGB 3 nicht voraus, dass der Anspruch dem Grunde nach besteht. Die vorläufige Leistung gemäß § 328 SGB 3 stellt ein aliud gegenüber der endgültigen Bewilligung dar (Anschluss BSG Urteil vom 6. April 2011, B 4 AS 119/10 R).

4. Nach allgemein anerkannten Grundsätzen kann bei der zugewiesenen pflichtgemäßen Ausübung des Ermessens i. S. von § 39 SGB 1 im Einzelfall das Ermessen so weit eingeengt sein, dass nur eine Entscheidung rechtmäßig ist und über diesen Weg eine bestimmte Entscheidung zu ergehen hat.

5. Bei Erfüllung der Voraussetzungen nach § 328 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 SGB 3 ist es pflichtwidrig, jegliche vorläufige Leistung abzulehnen. Wegen des existenzsichernden Charakters des Arbeitslosengeldes 2 ist der Ermessensspielraum des Grundsicherungsträgers im Ergebnis auf Null reduziert. Damit besteht bei Vorliegen der übrigen gesetzlichen Voraussetzungen ein Anspruch des Hilfebedürftigen auf die vorläufige Bewilligung des Arbeitslosengeldes 2 in voller Höhe.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 29.04.2015 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig Leistungen nach dem SGB II als Regelbedarf und Kosten der Unterkunft nach den gesetzlichen Bestimmungen ab dem 27.03.2015 für die Dauer von sechs Monaten, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache, zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen in beiden Rechtszügen.

Den Antragstellerinnen wird für das Beschwerdeverfahren ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin U in L beigeordnet.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerinnen begehren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).

Die am 00.00.1977 geborene Antragstellerin zu 1) sowie ihre am 00.00.1998 geborene Tochter, Antragstellerin zu 2), sind bulgarische Staatsangehörige. Sie reisten am 09.02.2004 unter falschem Namen in die Bundesrepublik ein, gaben sich als mazedonische Staatsbürgerinnen aus und erhielten eine ausländerrechtliche Duldung. Bis die Ausländerbehörde im Februar 2010 feststellte, dass sie nicht mazedonische, sondern bulgarische Staatsangehörige sind, bezogen die Antragstellerinnen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Nach Auskunft des Ausländeramtes L besteht ein rechtmäßiger Aufenthalt seit dem 07.09.2010. Die Antragstellerin zu 1) ist im Besitz einer seit dem 16.02.2011 gültigen unbefristeten Arbeitsberechtigung gemäß § 284 SGB III, die ihr die Aufnahme einer beliebigen beruflichen Tätigkeit erlaubt. Weiterhin liegt seit dem 31.08.2011 eine Freizügigkeitsbescheinigung vor.

Im Anschluss an einen Beschluss des Sozialgerichts (SG) Köln vom 18.03.2011 - S 33 AS 1570/11 ER - erhielten die Antragstellerinnen seit dem 01.08.2011 vom Antragsgegner ohne Anerkennung einer Rechtspflicht SGB II - Leistungen einschließlich der anteiligen Wohnungskosten in Form kommunaler Nutzungsgebühren für eine stadteigene Unterkunft, die sie mit den Eltern der Antragstellerin zu 1) und einer weiteren Person seit Jahren bewohnen. Nachdem er die Zahlungen bereits zum 01.03.2015 eingestellt hatte, lehnte der Antragsgegner den Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerinnen vom 20.02.2015 durch Bescheid vom 02.03.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.04.2015 ab. Die hiergegen am 08.04.2015 erhobene Klage (S 7 AS 1212/15) ist noch anhängig.

Am 27.03.2015 haben die Antragstellerinnen den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und im Wesentlichen ausgeführt, sie hielten sich bereits seit mehreren Jahren rechtmäßig in Deutschland auf. Sie erfüllten die Voraussetzungen, um Leistungen nach dem SGB II zu erhalten. Sie könnten nicht mehr nur allein von geliehenem Geld von Nachbarn ...

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