Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Sozialhilfe an einen erwerbsfähigen Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz. Sozialhilfe. EU-Ausländer. Freizügigkeitsrecht. Verfestigter Aufenthalt. Existenzminimum. Drohende Wohnungslosigkeit. Einstweilige Anordnung. Folgenabwägung. Anordnungsgrund
Orientierungssatz
Das BSG hat in mehreren Entscheidungen der Jahre 2015 und 2016 festgelegt, dass sowohl für Arbeitsuchende als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitsuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn ein verfestigter Aufenthalt über sechs Monate vorliegt. Der Gesichtspunkt der Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebietet es, vor diesem Hintergrund, in einer derartigen Situation existenzsichernde Leistungen zuzusprechen, vgl. u.a. BSG, Urteile vom 16. Dezember 2015 - B 14 AS 15/14 R und vom 17. März 2016 - B 4 AS 32/15 R.
Normenkette
SGB XII §§ 21, 23 Abs. 1 S. 3, Abs. 3; SGG § 86b Abs. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 1
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin und die Anschlussbeschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 15.3.2016 werden zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe auch für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt T aus E bewilligt.
Gründe
I.
Die im Jahre 1968 geborene Antragstellerin ist italienische Staatsangehörige. Sie ist geschieden. Ihre beiden 1988 und 1999 geborenen Töchter leben nach wie vor in Italien. Anfang 2015 reiste sie nach Deutschland ein und schloss am 3.1.2015 einen Untermietvertrag für Wohnräume, nach dem sie zur Zahlung einer pauschalen Monatsmiete inklusive Heizung-Wasser von 150 EUR verpflichtet ist. In der Zeit vom 15. 3. bis 31.5.2015 arbeitete sie in einer Pizzeria, im Anschluss daran bezog sie bis zum 30.11.2015 Leistungen nach dem SGB II. Das Jobcenter lehnte den Folgeantrag mit Bescheid vom 3.11.2015 ab. Nach ihren eigenen Angaben ist sie Analphabetin, spricht kein Deutsch und verfügt weder über Einkommen noch Vermögen.
Den Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII lehnte die Antragsgegnerin ab (Bescheid vom 12.2.2016). Auf den am 22.2.2016 gestellten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtete das Sozialgericht die Antragsgegnerin mit dem angefochtenen Beschluss zur vorläufigen Zahlung von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII in Form des Regelsatzes längstens bis zum 31. 8. 2016. Zur Begründung seiner Entscheidung stützte sich das Sozialgericht im wesentlichen auf ein grundlegendes Urteil des BSG vom 3.12.2015 (B 4 AS 44/15 R), wonach sowohl Arbeitssuchenden als auch Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitssuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügten, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen seien, wenn wie auch hier ein verfestigter Aufenthalt von über sechs Monaten vorliege. Die Verpflichtung der Antragsgegnerin auf Zahlung auch der Unterkunftskosten lehnte das Sozialgericht ab, da der Antragstellerin unmittelbar kein Verlust der Unterkunft drohe. Es sei bislang noch keine Kündigung schriftlich ausgesprochen worden.
Die Antragsgegnerin hat gegen diesen Beschluss am 11.4.2016 Beschwerde eingelegt. Sie vertritt nach wie vor die Auffassung, dass ein Leistungsanspruch gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen sei. Dies habe den Ausschluss einer Leistungsgewährung nach dem SGB XII zur Folge. Die abweichende Auffassung des Bundessozialgerichts widerspreche dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers.
Die Antragstellerin verteidigt den angefochtenen Beschluss und hat am 10.5.2016 zusätzlich Anschlussbeschwerde eingelegt mit dem Ziel einer Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung der Kosten für Unterkunft und Heizung. Die Vermieterin habe am 1.4.2016 die fristlose Kündigung des Mietverhältnisses ausgesprochen aufgrund des bestehenden Mietrückstandes. Damit sei die Wohnung der Antragstellerin akut gefährdet.
II.
Beschwerde und Anschlussbeschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts sind zulässig, aber nicht begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 A...