Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwaltspflichten bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich einer versäumten Verfahrensfrist
Orientierungssatz
1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich einer versäumten Klagefrist ist u. a. zu gewähren, wenn ein dem Kläger zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten nicht vorliegt.
2. Eine Zurechnung des Verschuldens von Hilfspersonen, insbesondere von Büropersonal des Anwalts ist nicht möglich, weil es im Prozessrecht an einer dem § 278 BGB entsprechenden Regelung fehlt.
3. Fehler von Angestellten sind dem Anwalt im Rahmen des Organisationsverschuldens dann nicht zuzurechnen, wenn der Anwalt die betroffene Aufgabe delegieren durfte und er die mit der Aufgabe beauftragten Angestellten sorgfältig ausgewählt, angeleitet und überwacht hat. Die Notierung und Überwachung von Fristen gehört zu den Tätigkeiten, die ein Anwalt einem hierzu befähigten Angestellten überlassen kann.
4. Der Anwalt muss hierzu eine zuverlässige Fristenkontrolle organisieren, insbesondere einen Fristenkalender führen und dafür Sorge tragen, dass die Erledigung fristgebundener Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders überprüft wird. Dabei setzt eine wirksame Fristenkontrolle voraus, dass Fristen zur Einlegung und Begründung von Rechtsbehelfen deutlich als solche gekennzeichnet werden.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 15.07.2009 geändert.
Dem Kläger wird hinsichtlich der Wahrung der Klagefrist für die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 09.06.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.09.2008 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Gründe
Der Widerspruchsbescheid vom 03.09.2008 traf nach Angabe des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 08.09.2008 in dessen Kanzlei ein. Am 13.10.2008 ging die mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist verbundene Klage beim Sozialgericht ein. Die Fristversäumnis sei auf ein Versehen der seit Gründung der Kanzlei tätigen, umfassend geschulten und äußerst sorgfältig arbeitenden Frau T., Ehefrau des Prozessbevollmächtigten, zurückzuführen. Diese habe anstelle der vom Prozessbevollmächtigten bei Bearbeitung am 09.09.2008 verfügten Wiedervorlagefrist 02.10.2008, Nr. 4 was der "Verfügung einer Notfrist" entspreche, zwar die richtige Wiedervorlagefrist im Fristenkalender notiert, jedoch versehentlich den Wiedervorlagegrund Nr. 10, "Entscheidung Gericht/Behörde".
In der durch einen Feiertag verkürzten und wegen zusätzlicher Terminbelastung durch eine Urlaubsvertretung für einen Kollegen 40. Kalenderwoche seien nicht alle zur Frist notierten Akten bearbeitet worden. Ein Teil der Fristen, darunter die für das vorliegende Verfahren notierte Frist sei von Frau T. ohne erneute Einsicht in die Akte auf die 41. Kalenderwoche vorgetragen worden. Erst bei der Aktenbearbeitung am 10.10.2008 sei aufgefallen, dass der falsche Wiedervorlagegrund notiert und die Klagefrist abgelaufen gewesen sei.
Hierzu wurde eine eidesstattliche Versicherung der Frau T. vom 10.10.2008 vorgelegt, wonach der sachbearbeitende Rechtsanwalt die Frist durch Angabe von Datum und Fristgrund verfügt, die jeweilige Rechtsanwaltsfachangestellte die Frist und den Fristgrund in der elektronischen Datenverarbeitung einträgt und die Erledigung dieses Vorganges durch Handzeichen auf dem Schriftstück kennzeichnet. Die Fristen würden dann für jeden Anwalt wöchentlich ausgedruckt und zu Beginn der Arbeitswoche von diesen durchge-sehen. Hierbei kennzeichne der Anwalt die anstehenden Notfristen mit den Fristgründen "Ende Notfrist", "Notfrist eine Woche" und "Ende Gerichtsfrist". Zusätzlich erhalte der Anwalt täglich eine Liste mit tagesbezogenen Ausdrucken zusammen mit den zugehörigen Akten. Sofern die vorgelegten Akten nicht am Tag der Vorlage oder in der laufenden Woche bearbeitet werden könnten, würden sie auf die folgende Arbeitswoche vorgetragen. Dies geschehe durch eine zusammenfassende Programmfunktion ohne dass jede einzelne Akte noch einmal zur Hand genommen werden müsse.
Weshalb sie, Frau T., den auf den Widerspruchsbescheid vom 03.09.2008 verfügten Wiedervorlagegrund Nr. 4 nicht, dafür aber den Wiedervorlagegrund Nr. 10 eingetragen habe, könne sie heute nicht mehr angeben. Möglicherweise habe sie irrtümlich die Monatszahl als Wiedervorlagegrund eingetragen. Ein Fehler dieser Art sei ihr bisher noch nicht unterlaufen.
Mit Beschluss vom 15.07.2009 hat das Sozialgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist abgelehnt. Ein Wiedereinsetzungsgrund liege nicht vor, da dem Kläger ein Organisationsverschulden des Bevollmächtigten zuzurechnen sei. Der Fehler der Organisation liege darin, dass die Fristen, die im EDV-Kalender nicht als Notfristen notiert seien, bei Ablauf der Frist nicht anhand der Akten nochmals kontrolliert würden, so dass im EDV-Kalender eingetragene Fehler so nicht ent...