Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Gewährung und Fortbestehen internationalen Schutzes durch einen anderen Staat. Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Rückkehr in den schutzgewährenden Staat. Verhältnisse in Griechenland. Verfassungsmäßigkeit. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Leitsatz (amtlich)
1. § 1a Abs 4 S 2 AsylbLG setzt als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zusätzlich voraus, dass dem Betroffenen eine Rückkehr in das schutzgewährende Land rechtlich wie tatsächlich möglich und auch zumutbar ist.
2. Zur Frage einer Leistungseinschränkung nach § 1a Abs 4 S 2 AsylbLG bei Gewährung internationalen Schutzes durch Griechenland.
Orientierungssatz
Die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs 4 S 2 AsylbLG begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, da sie das Grundrecht der Betroffenen auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in offensichtlicher Weise beeinträchtigt.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 16.01.2020 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zu 1 und 2 ab dem 13.12.2019 bis zum Ende des Monats der Zustellung dieser Entscheidung des Senats Leistungen gemäß § 3 AsylbLG ohne Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes, ob der Antragsgegner den Antragstellern lediglich Leistungen gewähren darf, die nach § 1a Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 AsylbLG eingeschränkt sind.
Die 1984 bzw. 1978 geborenen Antragsteller zu 1 und 2 sind Staatsangehörige des Irak. Sie reisten zunächst nach Griechenland ein. Dort wurde 2017 ihr gemeinsames Kind (der ehemalige Antragsteller zu 3) geboren.
In Griechenland wurde den Antragstellern am 21.09.2018 internationaler Schutz gewährt. Am 20.09.2019 reisten sie nach Deutschland ein und beantragten am 11.10.2019 Asyl.
Mit Bescheid vom 17.10.2019 lehnte das BAMF den Asylantrag als unzulässig ab. Abschiebungsverbote bestünden nicht. Die Antragsteller würden aufgefordert, Deutschland innerhalb einer Woche zu verlassen. Sollten sie diese Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach Griechenland abgeschoben. Sie könnten auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürften oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei; in den Irak dürften sie jedoch nicht abgeschoben werden. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung werde ausgesetzt; die Wirksamkeit des Verwaltungsaktes werde dadurch vorläufig gehemmt und lebe wieder auf, wenn die Entscheidung über den Asylantrag unanfechtbar werde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid des BAMF Bezug genommen. Gegen diesen Bescheid ist beim Verwaltungsgericht N ein Klageverfahren (xxx) anhängig.
Mit (an die Antragsteller zu 1 und 2 gerichtetem) Bescheid vom 28.10.2019 in Gestalt der (für beide Antragsteller getrennt erlassenen) Widerspruchsbescheide vom 25.11.2019 schränkte der Antragsgegner zunächst für die Dauer von sechs Monaten deren Leistungen nach dem AsylbLG nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ein. Die Antragsteller hätten in Griechenland einen fortbestehenden Schutzstatus. Ihnen werde weiterhin Unterkunft und Verpflegung gewährt, ferner reduzierte "Taschengeld"-Leistungen von 6,00 EUR wöchentlich für Körper- und Gesundheitspflege; der monatliche Geldleistungsanspruch sei damit auf 24,00 EUR reduziert. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die genannten Bescheide Bezug genommen.
Die Antragsteller zu 1 und 2 sowie der (ehemalige) Antragsteller zu 3 haben am 13.12.2019 Klage vor dem Sozialgericht Detmold erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG erfordere als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dass dem Betroffenen eine Rückkehr in das schutzgewährende Land tatsächlich und rechtlich möglich und zumutbar sei. Bei Griechenland sei Letzteres insbesondere bei sog. vulnerablen Personen nicht der Fall. Eine nicht bestandskräftige asyl- oder aufenthaltsrechtliche Entscheidung entfalte im Rahmen von § 1a AsylbLG keine Tatbestandswirkung (LSG Celle, Beschluss vom 19.11.2019 - L 8 AY 26/19 B ER).
Die Antragsteller (zu 1 bis 3) haben beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern vorläufig Leistungen gemäß § 3 AsylbLG ohne Berücksichtigung einer Leistungskürzung gemäß § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG zu gewähren.
Der Antragsgegner hat beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er hat darauf hingewiesen, dass für den (damaligen) Antragsteller zu 3 keine Leistungseinschränkung vorgenommen worden sei, und ferner vorgetragen, § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG setze gerade kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal im Sinne der Antragsteller voraus. Eines solchen Merkmals der tatsächlich und rechtlich mögli...