Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts. Aufenthaltsrecht. keine Existenzsicherung durch Verkauf Obdachlosenzeitung. Erwerbsfähigkeit. rumänischer Staatsangehöriger. Arbeitsgenehmigung-EU. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität

 

Orientierungssatz

1. Voraussetzung für die Gewährung von Grundsicherungsleistungen ist ua, dass der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Ein Ausländer hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, wenn er über einen Aufenthaltstitel verfügt, der den persönlichen Aufenthalt zulässt.

2. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts bei der Anwendung von § 7 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB 2 ist dahin auszulegen, dass ein prognostisch auf Dauer gesicherter Aufenthalt zu fordern ist, der die Beseitigung von Bedürftigkeit durch Aufnahme einer Tätigkeit mit existenzsicherndem Ertrag ungefährdet erscheinen lässt. Besteht die einzige von dem Antragsteller ausgeübte Tätigkeit im Verkauf einer Obdachlosenzeitung, so existiert mangels der erforderlichen Prognose kein Aufenthaltsrecht.

3. Bei einem Mangel an Mitteln, die eigene Existenz zu sichern, erwächst aus Art 18 Abs 1 EGV (juris: EG) grundsätzlich kein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates.

4. Ein rumänischer Staatsangehöriger ist als Staatsangehöriger eines neuen EU-Mitgliedsstaates in seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt. Eine Arbeitserlaubnis-EU/Arbeitsberechtigung-EU nach § 284 SGB 3 kann ihm infolgedessen nur in Abhängigkeit vom Vorhandensein bevorrechtigter Arbeitnehmer erteilt werden.

5. Verfügt ein solcher Antragsteller über keine beruflich verwertbaren Qualifikationen und hat er eine qualifizierte Vortätigkeit nicht ausgeübt, so erscheint angesichts bevorrechtigter Arbeitnehmer eine konkret realistische Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitserlaubnis ausgeschlossen.

6. Ein rumänischer Staatsangehöriger hat nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie ein deutscher Arbeitsuchender, solange er nicht im Besitz einer Arbeitsgenehmigung-EU ist. Deshalb besteht auch unter Beachtung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes nach EGV und AEUV ein objektiver Grund, ihn von Leistungen des SGB 2 auszuschließen.

7. Es besteht solange keine Veranlassung, den Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 europarechtlich in Frage zu stellen, solange keine eindeutigen Hinweise auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung in der Judikative des BVerfG bzw des EuGH gegeben sind.

 

Tenor

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 07.02.2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, H, beigeordnet.

 

Gründe

I.

Die 1959 und 1958 geborenen Antragsteller zu 1) und 2) leben zusammen mit ihrer gemeinsamen, 1993 geborenen Tochter, der Antragstellerin zu 3). Sie sind rumänische Staatsbürger.

Nach Eintragungen im Ausländerzentralregister ist der Antragsteller zu 1) erstmals am 11.05.1990 in das Bundesgebiet eingereist, die Antragstellerin zu 2) am 17.07.1991. Nach eigenen Angaben reisten beide nach jeweils abgelehnten Asylanträgen wiederum aus. Erneut im Juli 2005 wurde die Antragstellerin zu 2) melderechtlich erfasst. Seit erneuter Registrierung im September 2009 halten sich die Antragsteller nach eigenen Angaben ununterbrochen im Bundesgebiet auf.

Als einzige Einkunftsquelle seither haben die Antragsteller den Verkauf einer Obdachlosenzeitung ("G") angegeben, deren Umfang jedoch auch auf Nachfrage des Senats nicht präzisiert oder belegt worden ist.

Am 10.06.2010 meldete der Antragsteller zu 1) ein selbstständiges Abbruchgewerbe an, erhielt daraufhin eine mit dem 01.07.2010 datierte Freizügigkeitsbescheinigung gem. § 5 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU), in der auf das Genehmigungserfordernis bei Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung hingewiesen wird und meldete am 14.07.2010 sein Gewerbe wieder ab. Mit Schreiben vom 09.08.2010 hat das Ausländeramt der Stadt Gelsenkirchen den Antragsteller zu 1) zur beabsichtigten Entziehung der Freizügigkeitsbescheinigung angehört. Zum Hintergrund der Gewerbeanmeldung hat der Antragsteller zu 1) vortragen lassen, er habe nach einem Arbeitsangebot eines Türken namens Ali in einer Gaststätte das Gewerbe angemeldet, diesen jedoch in der Folge nicht mehr angetroffen und deshalb das Gewerbe wieder abgemeldet.

Den am 29.10.2010 gestellten Antrag auf Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) lehnte die Rechtsvorgängerin des Antragsgegners (im Folgenden einheitlich: Antragsgegner) mit Bescheid vom 03.12.2010 und der Begründung ab, ein Leistungsanspruch stehe nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht zu, weil sich die Antragsteller alleine zur Arbeitsuche in...

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