Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch des an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidenden Versicherten auf Versorgung mit einer extrakorporalen Lipid-Apharese-Behandlung im Wege des einstweiligen Rechtschutzes
Orientierungssatz
1. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat die ambulante Durchführung der Lipid-Apharese als anerkannte Behandlungsmethode nach § 135 Abs. 1 S. 1 SGB 5 aufgenommen. Sie soll nur in Ausnahmefällen als ultima ratio bei therapierefraktären Verläufen eingesetzt werden.
2. Besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtschutzverfahren zugrunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, so verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtschutzverfahren. In einem solchen Fall hat sich die Entscheidung an einer Folgenabwägung der widerstreitenden Interessen des Versicherten und der Krankenkasse zu orientieren (BVerfG Beschluss vom 22. 11. 2002, 1 BvR 1586/02).
3. Kardiovasculäre Erkrankungen können den Charakter einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Versicherten haben. Bei einer entsprechenden Erkrankung des Versicherten ist er im Wege des einstweiligen Rechtschutzes mit den erforderlichen extrakorporalen Lipid-Apharese-Behandlungen zu versorgen.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 7. Dezember 2020 abgeändert. Die Antragsgegnerin wird vorläufig verpflichtet, den Antragsteller für die Zeit ab Zustellung des vorliegenden Beschlusses bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, spätestens bis zum 31. Juli 2021 mit regelmäßigen, extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen zu versorgen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Antragstellers mit regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen.
Der 1966 geborene, bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller leidet u.a. an einer koronaren 1-Gefäßerkrankung bei Zustand nach Myokardhinterwandinfarkt im Mai 2017, einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) im Stadium IIb bei Zustand nach aortobifemoraler Y-Prothesen-Implantation im August 2017 mit Verschluss der Prothese mit mehrfachen Thrombektomien der Prothesenschenkel im September/Oktober 2019 sowie einer gemischten Hyperlipidämie mit Lp(a)-Erhöhung.
Der Antragsteller wandte sich erstmalig Ende des Jahres 2019 an die Antragsgegnerin und stellte über seinen behandelnden Nephrologen Dr. W zudem bei der Sachverständigen-Kommission Apherese der Kassenärztlichen Vereinigung (KVWL) einen Erstantrag zur Beratung der Indikationsstellung zur Apherese-Behandlung für die Lp(a)-Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung. Die Kommission befürwortete den Einsatz der LDL-Apherese/Lp(a)-Apherese bei dem Antragsteller nicht (Beratungsergebnis vom 17. Januar 2020). Sie habe keine Indikation zur Senkung des Lp(a) zur Verhinderung von Rethrombosierung und Restenosierung in künstlichen Gefäßregionen erkennen können. Eine Apheresenindikation werde daher nicht gesehen.
Die Antragsgegnerin lehnte daraufhin den Antrag des Antragstellers ab (Bescheid vom 29. Januar 2020), wogegen sich der Antragsteller mit dem Widerspruch wandte. Diese Ablehnung war sodann Gegenstand des unter dem Aktenzeichen S 39 KR 276/20 ER vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund geführten Eilverfahrens. Das SG verpflichtete in diesem Rahmen die Antragsgegnerin nach Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte rechtskräftig vorläufig bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis zum 20. Oktober 2020, den Antragsteller mit extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen zu versorgen (Beschluss vom 17. April 2020).
Die Apherese-Behandlung wurde sodann durch den behandelnden Nephrologen Dr. W durchgeführt.
Der durch die Antragsgegnerin parallel beauftragte Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) stellte unter Auswertung der im gerichtlichen Eilverfahren beigezogenen Unterlagen fest (Gutachten vom 4. Mai 2020), dass sowohl eine Gefäßsklerose mit Manifestation als pAVK, eine koronare 1-Gefäßerkrankung und Carotis-Stenosen als auch eine gemischte Hyperlipidämie sowie Lp(a)-Erhöhung bei dem Antragsteller vorlägen. Allerdings seien die Kriterien für die gewünschte Behandlung gemäß der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (MVV-RL) nicht erfüllt. Gemäß den vorliegenden Laborbefunden sei die gemischte Hyperlipidämie mittels der Applikation von Statinen medikamentös behandelt worden und habe weitgehend den Zielbereich erreicht. Ausweislich der gefäßchirurgischen Befunde zeige sich in der Zeit von 2017 bis Ende 2019 keine Veränderung der Lokalbefunde der Gefäße. Die gefäßchirurgische Intervention im September/Oktober 2019 habe allein auf dem thrombotisch bedingten Verschluss innerhal...