Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenbehandlung. Herzerkrankung. Versorgung mit einer extrakorporalen Lipid-Apherese-Therapie bei dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung. bei fehlender Glaubhaftmachung eines unmittelbar lebensbedrohlichen Schweregrades der Erkrankung auch keine notstandsähnliche Situation im Sinne von § 2 Abs 1a SGB 5
Orientierungssatz
1. Die vom Gemeinsamen Bundesausschuss nach § 135 Abs 1 S 1 SGB 5 als neue Behandlungsmethode anerkannte extrakorporale Lipid-Apherese-Therapie wird bei koronarer Herzerkrankung, peripherer arterieller Verschlusskrankheit und zerebrovaskulären Erkrankungen angewandt. Gemäß Anl 1 Nr 1 § 3 Abs 2 MVVRL können Lipid-Apheresen bei isolierter Lipid-Erhöhung nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lipid-Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch und durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung.
2. Danach sollen Apheresen nur in Ausnahmefällen als ultima ratio bei therapiefraktären Verläufen eingesetzt werden.
3. Die erforderliche Bejahung des Begriffs "progredient" setzt voraus, dass über einen bestimmten Zeitraum, klinisch oder durch bildgebende Verfahren, eine Verschlechterung der kardiovaskulären Erkrankung festgestellt sein muss. Fehlt es daran, so ist eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausgeschlossen.
4. Wurde bezüglich der Herzerkrankung des Versicherten kein solcher Schweregrad glaubhaft gemacht, dass von einer unmittelbaren Lebensbedrohlichkeit gesprochen werden könnte, besteht auch keine notstandsähnliche Krankheitssituation im Sinne von § 2 Abs 1a SGB 5, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt kein Anspruch auf eine einstweilige Anordnung besteht.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 17. Februar 2020 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 20. Januar 2020 abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Gründe
I. Streitig ist die Versorgung der Antragstellerin mit einer extrakorporalen Lipid-Apherese-Therapie.
Die am 00.00.1972 geborene und bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversicherte Antragstellerin erlitt am 27. Mai 2018 einen Myokardinfarkt mit prähospitaler Reanimation, in dessen Folge am 27./30. Mai 2018 vier Stents und ein automatischer Kardioverter-Defibrillator (AICD) implantiert wurden. Laut vorläufigem Entlassungsbericht des I-Hospitals X vom 13. März 2020 leidet die Antragstellerin gegenwärtig an einer gemischten Hyperlipidämie und einer koronaren 3-Gefäßkrankheit (deutliche Vasospasmusneigung, mittelgradig reduzierte LV-Funktion, EF 40-45%).
In der Zeit vom 26. Juni bis 17. Juli 2018 nahm die Antragstellerin an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teil, in der ihr "bei regelrechter Rekonvaleszenz" eine körperliche Belastbarkeit für sogar mittelschwere Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von mehr als sechs Stunden täglich bescheinigt wurde (Entlassungsbericht der N-Fachklinik vom 3. August 2018). Eine Kontroll-Koronarangiographie in 9 Monaten nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme wurde empfohlen.
Eine Koronarangiographie wurde am 9. November 2018 im Joseph-Hospital Warendorf durchgeführt (Diagnose: u.a. "keine Progression der koronaren 3-Gefäßerkrankung").
Am 8. März 2019 beantragte der die Antragstellerin behandelnde Facharzt für Innere Medizin Dr. S bei der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) die Genehmigung einer wöchentlichen Lipid-Apherese-Therapie auf dem Boden einer Erhöhung des Lipoprotein(a) )im Folgenden: Lp(a)( bei fehlendem Risikofaktor LDL-Cholesterin. Es liege eine seltene Konstellation eines primären - Lp(a) bedingten - Risikofaktors der koronaren Herzerkrankung bei zusätzlich familiärer Belastung vor.
Mit Schreiben vom 4. Juli 2019, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 9. Juli 2019, teilte die KVWL mit, dass die Sachverständigen-Kommission Apherese am 27. Juni 2019 die Indikationsstellung zur Apherese für den Patienten mit dem Zeichen "MEKU F 892" beraten habe und zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Lipid-Apherese-Therapie nicht befürwortet werden könne. Es liege kein Befund vor, der erkläre, dass es nach LDL-C-Senkung in den Normbereich unter 100 mg klinisch und bildgebend zu einem Progress der Erkrankung gekommen sei, der ausschließlich dann nur noch durch Lp(a) begründet sei. Ein Bericht über den Gefäßstatus der Koronarien aus April 2019 liege dem Antrag nicht bei. Insofern könne auch nicht bildgebend entschieden werden. Am 16. Juli 2019 erhielt die Antragsgegnerin Kenntnis davon, dass es sich bei der betroffenen Patientin um die Antragstellerin handelte.
Die Antragsgegnerin teilte diese Entscheidung dem behandelnden Arzt Dr. S und - mit Bescheid vom 30. Juli 2019 - der Klägerin mit. Entsprechend der Empfehlung der Beratungskommission der KVWL wurde eine Leistungszusage abgelehnt: Die Antragstellerin erfülle nicht die Vorgaben der Anlage ...