Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialversicherungsrecht: Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen nach rückwirkender Aufhebung eines Tarifvertrages für Leiharbeitnehmer. Vertrauensschutz auf Wirksamkeit des Tarifvertrages. Betriebsprüfung. Beitragspflichtiges Arbeitsentgelt. Entstehungsprinzip. Equal-pay-Prinzip. Tarifunfähigkeit der CGZP. Summenbescheid. Verletzung der Aufzeichnungspflicht. Verjährung. Vorsatz. Anordnung der aufschiebenden Wirkung
Orientierungssatz
1. Wurde nachträglich ein Tarifvertrag für Leiharbeiter für ungültig erklärt (hier: mangels Tariffähigkeit der vertragschließenden Gewerkschaft), so ist dann, wenn sich aus der Anwendung der gesetzlichen Regelung in § 10 Abs. 4 AÜG (Equal-Pay-Prinzip) ein höheres Arbeitsentgelt für die betroffenen Leiharbeitnehmer ergibt auch der Gesamtsozialversicherungsbeitrag neu zu berechnen und nachzuzahlen, auch wenn die tatsächlich geschuldeten Arbeitsentgelte den Leiharbeitnehmern (noch) nicht zugeflossen sind. Das gilt auch für Zeiträume in der Vergangenheit, wenn der Tarifvertrag rückwirkend aufgehoben wird, da ein Schutz des guten Glaubens an den Bestand des Tarifvertrages nicht besteht.
2. Jedenfalls im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes auf Aussetzung des Vollzugs eines Nachforderungsbescheides über einen Gesamtsozialversicherungsbeitrag ist das Verfahren auch dann nicht auszusetzen, wenn sich die Nachforderung aus der rückwirkenden Aufhebung eines Tarifvertrages durch die Arbeitsgerichte ergibt und die entsprechenden Beschlüsse im arbeitsgerichtlichen Verfahren noch nicht rechtskräftig sind.
Normenkette
SGB IV §§ 14, 22 Abs. 1, § 25 Abs. 1, § 28e Abs. 1 S. 1, § 28f Abs. 2, § 28p Abs. 1 S. 5; BVV § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 11; AÜG § 9 Nr. 2, § 10 Abs. 4; TVG § 2; SGG § 86a Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 S. 3, § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 18.1.2012 geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 28.11.2011 wird angeordnet, soweit die Antragsgegnerin Nachforderungen für Zeiten vor dem 1.1.2007 geltend macht. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt und die Beschwerde zurückgewiesen.
Von den Kosten des gesamten Verfahrens trägt die Antragstellerin 3/4, die Antragsgegnerin 1/4.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 19.360,27 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerin, ein Personaldienstleistungsunternehmen, wehrt sich im einstweiligen Rechtsschutz gegen die Verpflichtung, Sozialversicherungsbeiträge nachzuzahlen.
Im Anschluss an die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 14.12.2010 zur Tarifunfähigkeit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) führte die Antragsgegnerin eine Betriebsprüfung bei der Antragstellerin durch und kam zu einer Nachforderung in Höhe von 77.441,07 Euro (Bescheid vom 28.11.2011). Zur Begründung führte sie aus, in den Arbeitsverträgen zwischen der Antragstellerin und den bei ihr beschäftigten Leiharbeitnehmern werde für den gesamten Prüfzeitraum auf den Tarifvertrag zwischen der CGZP und dem Arbeitgeberverband mittelständischer Personaldienstleister (AMP) verwiesen. Auf der Basis der dort vorgesehenen Vergütungen habe die Antragstellerin die Beiträge für die Leiharbeitnehmer gezahlt sowie Meldungen und Beitragsnachweise zur Sozialversicherung abgegeben. Wegen der Unwirksamkeit des Tarifvertrages hätten die Beiträge jedoch zutreffend nach den Entgeltansprüchen vergleichbarer Arbeitnehmer der Stammbelegschaft des Entleihers berechnet werden müssen. Die Höhe des insofern zusätzlich geschuldeten Arbeitsentgeltes sei zu schätzen gewesen. Hierzu sei sie befugt, weil eine Ermittlung der geschuldeten Arbeitsentgelte - wenn überhaupt - nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich gewesen wäre. Zwar sei vorliegend feststellbar, dass Arbeitsentgelte grundsätzlich bestimmten Beschäftigten zuzuordnen seien, jedoch sei die personenbezogene Ermittlung der geschuldeten Arbeitsentgelte aufgrund der großen Anzahl der zu überprüfenden Beschäftigungsverhältnisse, der zum Teil sehr kurzen Dauer der jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse, der Anzahl der Entleiher und der Dauer der jeweiligen Überlassungszeiträume nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand möglich. Eine große Anzahl der Beschäftigungsverhältnisse habe zudem lediglich bis zu 3 Monaten gedauert, und die Überlassung der Mitarbeiter sei an viele unterschiedliche Entleiher erfolgt. Bei der Schätzung ging die Antragsgegnerin wie folgt vor:
- Die Beschäftigten wurden nach Qualifikation gruppiert.
- Auf Basis der geleisteten Gesamtstunden aller Beschäftigten wurden für die Gruppen spezifische Bruttolohnsummen je Gruppe und je Kalenderjahr ermittelt
- Die Gruppenlohnsummen wurden um Lohnzahlungen aufgrund von Zeiten, in denen keine equal-Pay-Ansprüche bestanden (bzw. bestehen konnten), bereinigt. Dies waren:
- verleihfreie Zeiten
- Zeiten von zuvor arbeitslosen Leiharbeitnehmern in den ersten...