Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Vollwaisenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Tod der Pflegeeltern
Leitsatz (amtlich)
1. Waisenrenten haben Unterhaltsersatzfunktion für den Entfall des Unterhaltsanspruchs gegen die zivilrechtlich dem Grunde nach verpflichteten Eltern.
2. Unterhaltsverpflichtet sind lediglich leibliche Eltern und Adoptiveltern; Pflegeeltern sind Pflegekindern gegenüber nicht unterhaltsverpflichtet.
3. Die für Pflegekinder anspruchsbegründende Norm des § 48 Abs 3 SGB VI stellt infolge fehlender Unterhaltspflicht von Pflegeeltern einen Systembruch im Recht der unterhaltsersetzenden Waisenrenten dar.
4. Ein Kind kann im Recht der Waisenrenten nach § 48 SGB VI daher mehr als zwei Elternteile haben, dies gilt insbesondere für Pflegekinder, die leibliche Eltern und Pflegeeltern haben (zutreffend: Bohlken in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Aufl, § 48 SGB VI (Stand: 1.4.2021), RdNr 27).
5. Ausgehend von der Funktion der Waisenrente als "Unterhaltsersatz" kann daher nach der ratio legis der anspruchsbegründenden Norm des § 48 Abs 3 SGB VI und dessen systematischer Stellung zu den Absätzen 1 und 2 ein Anspruch auf Vollwaisenrente bei Pflegekindern nur entstehen, wenn beide leiblichen Eltern verstorben sind. § 48 Abs 3 SGB VI schafft insoweit lediglich (systemfremd) einen Anspruch für das Pflegekind dem Grunde nach, § 48 Abs 1 und 2 SGB VI hingegen definieren unabhängig von Abs 3 die Begriffe Halbwaise und Vollwaise.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.06.2020 geändert und die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat außergerichtliche Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Vollwaisenrente.
Der am 00.00.1997 geborene Kläger war seit seiner Geburt im Haushalt der Eheleute T als Pflegekind aufgenommen. Er trägt den Nachnamen seiner Pflegeeltern.
Leibliche Eltern des Klägers sind M, geboren am 00.00.1975, wohnhaft in I und R, geboren am 00.00.1962, wohnhaft in D. Beide Eltern leben.
Nach dem Tod des Pflegevaters -H.T- gewährte die Beklagte dem Kläger ab dem Jahre 2013 eine Halbwaisenrente. Nach dem Tod der Pflegemutter am 00.10.2015 - A.T - beantragte der Kläger am 14.12.2015 die Gewährung einer Vollwaisenrente.
Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Vollwaisenrente mit Bescheid vom 04.08.2016 ab.
Hiergegen legte der Kläger am 05.09.2016 Widerspruch ein und trug zur Begründung weiter vor, zwar lebten seine leiblichen Eltern noch, er habe aber keinerlei Kontakt. Er wünsche auch einen solche nicht, weil sich die leiblichen Eltern um ihn als Säugling nicht gekümmert und ihn vernachlässigt hätten.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.11.2016 zurück und führte hierzu aus, dass mindestens ein leiblicher Elternteil des Klägers noch lebe und daher eine Vollwaisenrente für Pflegekinder nach § 48 Abs. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht in Betracht komme.
Hiergegen hat der Kläger am 28.12.2016 Klage zum Sozialgericht Düsseldorf erhoben,
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Rechtsauffassung der Beklagten zu § 48 Abs. 3 SGB VI stehe zu dem Sinn und Zweck des Gesetzes sowie seiner systematischen Ausrichtung im Widerspruch. Wäre die von der Beklagten angenommene Regelung gewollt gewesen, hätte es des § 48 Abs. 3 SGB VI überhaupt nicht bedurft.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 04.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2016 zu verpflichten, ihm ab dem 28.10.2015 Vollwaisenrente zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Urteil vom 30.06.2020 hat das Sozialgericht Düsseldorf der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Aufhebung des Bescheids vom 04.08.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.11.2016 ab dem 28.10.2015 Vollwaisenrente zu gewähren.
Gegen das am 24.07.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21.08.2020 Berufung eingelegt.
Sie trägt vor, ob ein Kind Halbwaise oder Vollwaise sei, bestimme sich allein danach, ob es noch einen Elternteil habe, der unbeschadet wirtschaftlicher Verhältnisse unterhaltspflichtig sei. Dies richte sich nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Als Kinder würden auch berücksichtigt, Stiefkinder und Pflegekinder, die in dem Haushalt des Verstorbenen aufgenommen gewesen seien. Damit zählten auch Pflegekinder zum erweiterten, anspruchsberechtigten Kreis. Pflegeeltern seien nach den Vorschriften im BGB Pflegekindern jedoch nicht unterhaltspflichtig. Die leiblichen Eltern des Klägers lebten noch. Diese seien und blieben auch unterhaltspflichtig. Der Kläger habe somit noch mindestens ein Elternteil, der unterhaltspflichtig sei. Der Tod der Pflegemutter wirke sich demnach auf den Status des Pflegekindes als Halbwaise nicht aus. Das Pflegekind bleibe weiterhin Halbwaise, auch wenn beide Pflegeeltern verstorben seien.