Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. unentgeltliche Beförderung. keine kostenlose Wertmarke bei Leistungen nach §§ 3 ff AsylbLG. Verfassungsrecht. menschenwürdiges Existenzminimum. Gleichheitsgrundsatz. UN-Behindertenrechtskonvention
Orientierungssatz
1. Leistungen nach §§ 3 ff AsylbLG fallen nicht unter den Begriff "für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Dritten und Vierten Kapitel des Zwölften Buches" im Sinne des § 145 Abs 1 S 5 Nr 2 SGB 9 (aF).
2. Auch eine entsprechende Anwendung des § 145 Abs 1 S 5 Nr 2 SGB 9 (aF) auf den Personenkreis der Leistungsbezieher gemäß § 3 AsylbLG ist - anders als in den Fällen der Bezieher von "Analogleistungen" gemäß § 2 AsylbLG - nicht geboten.
3. Es liegt kein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG vor, wenn dem Berechtigten, der die Eigenbeteiligung aufzubringen hat, (nur) das vom Gesetzgeber in Höhe des Regelbedarfs normativ bestimmte soziokulturelle Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl BSG vom 6.10.2011 - B 9 SB 7/10 R = SozR 4-3250 § 145 Nr 2 = BSGE 109, 154).
4. Aufgrund der Eigenständigkeit des Sicherungssystems des AsylbLG verstößt der Ausschluss der Leistungsbezieher gemäß §§ 3 ff AsylbLG von der Vergünstigung im Sinne des § 145 Abs 1 S 5 Nr 2 SGB 9 auch nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.
5. Die in § 145 Abs 1 SGB 9 enthaltene geringe jährliche Kostenbeteiligung von 72 Euro wird auch dem Art 20 Buchst a der UN-Behindertenrechtskonvention (juris UNBehRÜbk) gerecht, der vorgibt, die persönliche Mobilität mit großmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen und zu erschwinglichen Kosten zu erleichtern.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 15.01.2013 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Kosten sind einander in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Erstattung des Betrages, den die Klägerin für eine an sie ausgegebene Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personenverkehr entrichtet hat.
Die am 00.00.1990 geborene Klägerin ist angolanische Staatsangehörige. Sie hält sich seit 2004 im Bundesgebiet auf und ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling bezog sie zunächst Jugendhilfeleistungen. Im Anschluss an eine Berufsförderungsmaßnahme ging sie einer Erwerbstätigkeit nach und erhielt nach deren Beendigung Arbeitslosengeld und aufstockend Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Seit Mai 2011bezieht sie Leistungen gem § 3 ff Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Mit Bescheid vom 07.09.2009 stellte die Beklagte einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 wegen einer geistigen Behinderung sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche "erhebliche Gehbehinderung" (G) und "Erfordernis ständiger Begleitung" (B) fest. Am 30.08.2011 beantragte die Klägerin die Ausstellung eines neuen Beiblattes zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr und fragte an, ob die Möglichkeit bestehe, rückwirkend die Kosten der Wertmarken zu erstatten, da sie bereits seit Mai 2011 Leistungen nach dem AsylbLG erhalte. Mit Bescheid vom 13.10.2011 lehnte die Beklagte die Ausstellung eines kostenfreien Beiblattes ab, da die Klägerin keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), keine Leistungen nach dem dritten und vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII), keine Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) vom Jugendamt, keine Leistungen der ergänzenden Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 27a Bundesversorgungsgesetz (BVG) und auch keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach § 27d BVG erhalte. Die Klägerin wurde aufgefordert alternativ 60 Euro für das Beiblatt mit der 1-Jahreswertmarke oder 30 Euro für das Beiblatt mit der Halbjahreswertmarke zu zahlen. Im Folgenden überwies die Klägerin 60 Euro für den Zeitraum ab November 2011 und legte am 18.10.2011 Widerspruch ein. Auch für Leistungsempfänger nach dem AsylbLG sei aus Gründen der Gleichbehandlung eine kostenlose Wertmarke auszustellen. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2011 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch als unbegründet zurück.
Am 08.12.2011 hat die Klägerin beim Sozialgericht Köln (SG) Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt, dass das Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 03.09.2011 festgestellt habe, dass auch Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG in wortlauterweitender Auslegung des § 145 Abs 1 S 5 Nr 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) einen Anspruch auf Befreiung von den Kosten der Wertmarke hätten. Für den Anspruch auf die Befreiung komme es maßgeblich darauf an, ob Le...