Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. körperlicher Misshandlungen und sexueller Missbrauch im Kindesalter. Nachweis. Anwendbarkeit der aussagepsychologisches Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten im sozialgerichtlichen Verfahren. Beweiswürdigung
Orientierungssatz
1. Der Senat hält die in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Urteil vom 30.7.1999 - 1 StR 618/98 = BGHSt 45, 164-182) dargestellten Grundsätze der aussagepsychologischen Begutachtung für Glaubhaftigkeitsgutachten, wie sie die Strafgerichte seitdem in ständiger Rechtsprechung anwenden für auf den Sozialgerichtsprozess übertragbar (ebenso LSG Essen vom 29.9.2010 - L 6 (7) VG 16/05; LSG Berlin-Brandenburg vom 9.9.2008 - L 11 VG 33/08; SG Braunschweig vom 10.12.2008 - S 38 VG 40/04, juris RdNr 38 ff; andere Ansicht LSG Berlin-Brandenburg vom 8.7.2010 - L 13 VG 25/07, juris RdNr 36).
2. Es kann dahinstehen, ob im Strafprozess grundsätzlich andere Beweismaßstäbe gelten als Sozialgerichtsprozess. Denn die genannten wissenschaftlichen Prinzipien der Glaubhaftigkeitsbegutachtung beanspruchen Allgemeingültigkeit und entsprechen dem aktuellen Stand der psychologischen Wissenschaft. Ihre Anwendung ist der anschließenden Beweiswürdigung, die etwaigen Besonderheiten des jeweiligen Prozessrechts Rechnung tragen kann, vorgelagert und lässt sich davon trennen.
3. Hinweis der Dokumentationsstelle des Bundessozialgerichts: Nach Einlegung einer Revision und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG Essen wurde das Berufungsverfahren unter dem Aktenzeichen L 13 VG 43/13 fortgesetzt. In der mündlichen Verhandlung vom 13.6.2014 erfolgte die Rücknahme der Berufung.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 29.8.2008 wird zurückgewiesen. Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Gewalt und sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend der 1962 geborenen Klägerin.
Am 16.09.1999 beantragte die Klägerin Beschädigtenversorgung beim damals zuständigen Versorgungsamt C nach dem OEG. Sie gab an, ihre Gesundheitsstörungen rührten von Gewalttaten/Missbrauch im Elternhaus sowie vom sexuellen Missbrauch durch einen Fremden in der vierten Klasse her. Die Taten hätten sich zwischen ihrem Geburtsjahr 1962 mit abnehmender Tendenz bis 1980 zugetragen.
Das Versorgungsamt zog im Rahmen seiner Amtsermittlung eine Vielzahl von Arztberichten insbesondere über psychiatrische Behandlungen der Klägerin bei und holte eine schriftliche Aussage ihrer Tante G ein. Zudem hörte es die Klägerin an.
Mit Gutachten vom 26.09.2001 stellte die Fachärztin für Neurologie und psychotherapeutische Medizin Dr. X für das Versorgungsamt zusammenfassend fest, die Untersuchung der Klägerin habe nur in Ansätzen detaillierte Angaben zu den geltend gemachten Misshandlungen und dem sexuellen Missbrauch erbracht. Diagnostisch sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Aufgrund der Symptomatik sei nicht zu entscheiden, ob die psychische. Störung der Klägerin ein Milieuschaden im weitesten Sinne oder mindestens gleichwertig auf Gewalttaten im Sinne des OEG zurückzuführen sei.
Mit Bescheid vom 15.10.2001 lehnte das Versorgungsamt C daraufhin den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung ab. Die psychische Störung könne nicht als Folge tätlicher Gewalt anerkannt werden. Zwar seien einzelne körperliche Misshandlungen, Schläge und sexueller Missbrauch geschildert worden, insbesondere aber insgesamt zerrüttete Familienverhältnisse. Vor allem diese frühere, allgemeine familiäre Situation sei für die psychischen Probleme verantwortlich.
Den am 25.10.2001 eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 14.5.2002 zurück. Es sei nicht feststellbar, dass das Krankheitsbild der Klägerin gleichwertig oder überwiegend auf reale Misshandlungen und sexuellen Missbrauch zurückzuführen sei.
Am 14.06.2002 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren auf Gewährung von Opferentschädigung weiterverfolgt und ihre beim Versorgungsamt gemachten Angaben wiederholt hat.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klägerin, ihre Tante G sowie die Eltern und die Brüder U. und T1. der Klägerin als Zeugen vernommen bzw. in Amtshilfe vernehmen lassen. Auf die Protokolle der Zeugenaussagen wird im Einzelnen verwiesen.
Das Sozialgericht hat des Weiteren ein Sachverständigengutachten der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Sozialmedizin Dr. T sowie ein Zusatzgutachten auf aussagepsychologischem Gebiet der Diplom-Psychologin I eingeholt.
Die psychologische Sachverständige ist bei der Begutachtung und Darstellung der Ergebnisse laut ihrem Gutachten nach den Standards wissenschaftlich fundierter Glaubhaftig...