Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Pflegeversicherung: Zuerkennung einer Pflegestufe. Zulässigkeit der Einordnung in eine höhere Pflegestufe bei knapper Verfehlung des gebotenen Mindestzeitaufwandes für die Pflege

 

Leitsatz (amtlich)

Im Zusammenhang mit einem Antrag auf eine höhere Pflegestufe reicht es nicht aus, wenn der nach dem Gesetz erforderliche Zeitaufwand nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nur knapp und um wenige Minuten verfehlt wird, um die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nach der höheren Pflegestufe zu bejahen.

Die zu einem Fall der Herabstufung ergangene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 07.07.2005, B 3 P 8/04 R) ist nicht auf einen Höherstufungsantrag zu übertragen (anders SG Münster, Urteil vom 10.02.2012, S 6 P 135/10). Die Schnittstelle zur nächst höheren Pflegestufe muss tatsächlich erreicht werden, auch wenn die strikte Grenzziehung im Einzelfall Härten mit sich bringt.

 

Orientierungssatz

1. Der Hinweis auf die Auferlegung der Kosten gemäß § 192 SGG reicht jedenfalls bei einem mit dem sozialgerichtlichen Verfahren vertrauten Sitzungsvertreter eines Sozialversicherungsträgers aus, um die ausnahmsweise bestimmbare Kostentragungspflicht einer Partei gemäß § 192 SGG auszulösen.

2. Einzelfall zur Beurteilung des erforderlichen Zeitaufwands von Pflegeleistungen zur Bestimmung der Pflegestufe.

3. Einzelfall zur Auferlegung der Verfahrenskosten wegen rechtsmißbräuchlichen Verhaltens.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 02.04.2014; Aktenzeichen B 3 P 14/13 B)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 10.02.2012 wird zurückgewiesen. Der Beklagten werden Kosten in Höhe von 1.000 Euro auferlegt. Im Übrigen trägt die Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Zahlung von Pflegegeld nach der Pflegestufe III ab Januar 2010.

Der 1947 geborene Kläger ist bei der Beklagten pflegeversichert. Er leidet im Wesentlichen unter einem Zustand nach rechtshirnigem Mediainsult am 05.10.2002 mit brachio-facial betonter, spastischer Hemiparese links, Kontrakturen von Ellenbogen, Hand- und Fingergelenken links, Gleichgewichtsstörungen, erheblicher Stand- und Gangunsicherheit, insulinpflichtigem Diabetes mellitus mit diabetischer Neuropathie und Angiopathie sowie proliferativer diabetischer Retinopathie mit Blindheit beider Augen, inkompletter Harn- und Stuhlinkontinenz, arterieller Hypertonie, dilatativer Kardiomyopathie, Instabilität des linken oberen Sprunggelenks, Depression und Zustand nach psychotischem Erleben. Seit März 2003 bezieht er Pflegegeld nach der Pflegestufe II auf Grundlage eines Gutachtens des Sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten (SMD) vom 04.04.2003, in welchem ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 137 Minuten (Körperpflege 83 Minuten, Ernährung 2 Minuten, Mobilität 52 Minuten) festgestellt worden war. Einen Höherstufungsantrag aus Oktober 2003 lehnte die Beklagte nach Einholung eines weiteren Gutachtens des SMD vom 24.10.2003, in dem ein Hilfebedarf in der Grundpflege von 218 Minuten ermittelt worden war (Körperpflege 96, Ernährung 58, Mobilität 64), ab. Mit Wiederholungsgutachten vom 21.08.2009 stellte der SMD einen täglichen Hilfebedarf in der Grundpflege von 211 Minuten (Körperpflege 100, Ernährung 60, Mobilität 51) fest.

Am 07.01.2010 beantragte der Kläger die Höherstufung in die Pflegestufe III. Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der SMD am 21.01.2010 ein weiteres Gutachten, in dem ein Hilfebedarf in der Grundpflege von nunmehr 216 Minuten täglich (Körperpflege 103 Minuten, Ernährung 60 Minuten, Mobilität 53 Minuten) beschrieben wird. Mit Bescheid vom 10.02.2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Hiergegen legte der Kläger am 16.02.2010 Widerspruch ein und trug zur Begründung vor, der Zeitaufwand für die Grundpflege betrage durchschnittlich sechs Stunden täglich. Er legte außerdem ein Pflegetagebuch vor. Nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme des SMD vom 06.04.2010 wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.06.2010 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 09.07.2010 Klage beim Sozialgericht Münster (SG) erhoben, zu deren Begründung er im Wesentlichen ausgeführt hat, dass seine tatsächliche Situation in den Gutachten des SMD nicht konkret, sondern überwiegend pauschal beurteilt worden sei. Er sei infolge eines Schlaganfalls querschnittsgelähmt und seit Ende 2003 erblindet. Er könne sich nicht allein bewegen und sei nicht in der Lage, die Verrichtungen der Grundpflege selbständig auszuüben. Er sei rund um die Uhr, auch nachts, auf die Hilfe und Begleitung seiner Ehefrau angewiesen. Auch habe er vor einigen Wochen einen erneuten Schlaganfall erlitten und hierdurch die letzten Funktionsmöglichkeiten eingebüßt.

Das SG hat Befundberichte des HNO-Arztes H vom 17.02.2011, des Internisten und Kardiologen Dr. S vom 23.02.2011, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. G vom 24.02.2011, d...

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge