Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen den vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger. Heimunterbringung und Beschäftigung in einer WfbM. Kinder- und Jugendhilfe. Hilfe für junge Volljährige in Form von Heimerziehung bzw Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Volljährige. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bzw Leistungen im Arbeitsbereich einer WfbM. Zusammentreffen von geistiger und seelischer Behinderung
Leitsatz (amtlich)
Zur Anwendung des § 10 Abs. 4 SGB VIII bei Zusammentreffen von geistiger und seelischer Behinderung.
Orientierungssatz
1. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, so ist nach § 104 Abs. 1 S. 1 SGB 10 der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat.
2. Das Vorrang-/Nachrangverhältnis zwischen Jugend- und Sozialhilfe richtet sich nach § 10 Abs. 4 SGB 8. Dem Grundsatz nach gehen die Leistungen nach dem SGB 8 den Leistungen nach dem SGB 12 vor. Die vollstationäre Heimunterbringung ist sowohl Leistungsgegenstand der Eingliederungshilfe nach dem SGB 12 als auch Inhalt der Jugendhilfeleistung nach § 41 SGB 8. Beide Leistungspflichten sind deckungsgleich, vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 2011 - 5 C 6/11 und BSG, Urteil vom 24. März 2009 - B 8 SO 29/07.
3. Ist eine beim Betroffenen bestehende geistige Behinderung mit einer seelischen Behinderung dergestalt verknüpft, dass die geistige Behinderung die seelische Behinderung mit beeinflusst und einzelne Verursachungsbeiträge nicht auseinander gehalten werden können, so ist es nicht möglich, die Ursächlichkeit für den Hilfebedarf getrennt zu betrachten.
4. Dieser Schwierigkeit der Gewichtung einzelner Verursachungsbeiträge im Überschneidungsbereich von geistiger und seelischer Behinderung trägt die Rechtsprechung des BVerwG und des BSG dadurch Rechnung, dass sie für die Anwendung der Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 4 SGB 8 das Bestehen kongruenter Leistungspflichten für ausreichend ansieht. Danach enthält die Vorschrift keine eng auszulegende Ausnahme von dem in § 10 Abs. 4 S. 1 SGB 8 angeordneten Vorrang der Jugendhilfe.
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 27.01.2009 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 50.740,18 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, ob der Beklagte als überörtlicher Träger der Sozialhilfe der Klägerin als Trägerin der Jugendhilfe Aufwendungen für eine stationäre Wohnheimunterbringung des am 00.00.1985 geborenen M (im Folgenden: der Betroffene) in der Zeit von Juni 2005 bis November 2006 zu erstatten hat.
Der Betroffene ging als einziges Kind aus der 1985 geschlossenen Ehe seiner 1965 geborenen Eltern hervor. Etwa anderthalb Jahre nach der Eheschließung trennte sich die Mutter vom Vater. Die Mutter heiratete später noch zweimal. Aus einer dieser Ehen stammt eine 1991 geborene Halbschwester des Betroffenen. Dessen frühkindliche Entwicklung verlief verlangsamt. Er spielte destruktiv und weinte nicht. Im familiären Zusammenleben kam es ihm gegenüber auch zu Gewalttätigkeiten. Im Alter von vier bis sechs Jahren besuchte er einen Sonderkindergarten. Mit sieben Jahren wurde er altersgerecht in die Lernbehindertenschule in C eingeschult. Einige Male wurde er ambulant im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) der Universitätskinderklinik B behandelt. Jedenfalls seit Ende der neunziger Jahre lebte er bei seiner Mutter in C (damals Kreis B). Nachdem sich seine Mutter wegen Überforderung an den Beklagten bzw. das Amt für Kinder, Jugend und Familienberatung der Stadt B gewandt hatte, wurde der Betroffene am 18.11.1998 in die heilpädagogische Tagesgruppe des Kinderheims St. K in F aufgenommen. Die Kosten dafür trug der Kreis B aufgrund eines Bescheides vom 03.12.1998 als teilstationäre Leistung der Hilfe zur Erziehung nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII).
Im Zusammenhang mit der Aufnahme des Betroffenen in die Tageseinrichtung wurden Bescheinigungen der Sonderschule vom 23.10.1998 sowie des Gesundheitsamtes des Kreises B vom 25.11.1998 aktenkundig, wonach er unter einer Lernbehinderung, nicht jedoch unter einer geistigen Behinderung leide. Die Erziehungsschwierigkeiten seien in erster Linie aus einer schwierigen Mutter/Kind-Beziehung zu erklären.
Nachdem es im häuslichen Umfeld im Oktober 1998 und im März 1999 (mindestens) zweimal zu gewaltsamen sexuellen Handlungen des Betroffen an seiner 1991 geborenen Halbschwester gekommen war, wurde er ab dem 14.09.1999 in die jugendpsychiatrische Abteilung der S Kliniken W eingewiesen (Beschluss des Amtsgerichts (AG) B vom 06.09.1999 - 23 F 244/99). Dort verblieb er bis Februar 2000. Aus diesem Grund hob der Kreis B den Bescheid vom 03.12.1998 auf.
Im Hinblick...