Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausnahmecharakter der Fiktion einer Klagerücknahme
Orientierungssatz
1. Nach § 102 Abs. 2 S. 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Kläger ist ist in der Aufforderung auf die sich in S. 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Die Fiktion der Klagerücknahme hat Ausnahmecharakter. Dementsprechend ist das Vorliegen deren Voraussetzungen eng auszulegen.
2. Im Einzelfall darf das Gericht von einem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist.
3. Liegt dem Gericht eine Klagebegründung sowie eine Schweigepflichtentbindungserklärung mit den Anschriften der behandelnden Ärzte des Klägers vor, sind vom Gericht Ermittlungen geführt und ein ärztliches Gutachten in Auftrag gegeben, so fehlt es an ausreichenden, sachlich begründeten Anhaltspunkten für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses (LSG Essen Urteil vom 20. 4. 2011, L 9 SO 48/09).
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 29.04.2016 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass das beim Sozialgericht Duisburg ursprünglich unter dem Aktenzeichen S 29 U 334/14 geführte Verfahren fortzusetzen ist. Die weitergehende Berufung wird als unzulässig verworfen. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob das bei dem Sozialgericht Duisburg (SG) geführte Klageverfahren S 29 U 334/14 wirksam beendet worden ist.
Die im Ausgangsverfahren S 29 U 334/14 am 25.07.2014 erhobene Klage richtet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 24.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2014. Der Kläger will dort die Bewilligung einer Rente aufgrund eines Arbeitsunfalls am 06.10.2006 durchsetzen. Hierzu hat er vorgetragen, Knorpelschäden im Innenbereich seines rechten Kniegelenks seien auf diesen Unfall zurückzuführen und eine erneute Untersuchung angeregt. Den vom SG angeforderten Fragebogen zur Person nebst Schweigepflichtentbindung hat der Kläger am 18.08.2014 vorgelegt. Darin hat er unter anderem einen aktuell behandelnden Allgemeinarzt, einen Nephrologen und ein Verfahren nach dem "Schwerbehindertengesetz" mit dem Aktenzeichen S 30 SB 2426/13 angegeben, indem er ärztlich untersucht worden sei. Er hat außerdem das Vorerkrankungsverzeichnis der DAK beigefügt, aus der eine Krankenhausaufnahme am 02.04.2013 in die Orthopädie des St X-Spitals auf Veranlassung des einweisenden Allgemeinmediziners wegen Kniegelenksverletzung und chronischer Nierenkrankheit ersichtlich ist.
Unter dem 20.08.2014 hat das SG Angaben dazu erbeten, ob der Kläger aktuell in orthopädischer Behandlung sei und gegebenenfalls warum nicht. Auf die Erinnerung des SG vom 01.10.2014 hat der seinerzeitige Klägerbevollmächtigte das Mandat niedergelegt und gebeten, mit dem Kläger direkt zu korrespondieren. Unter dem 09.10.2014 hat das SG den Kläger persönlich an die Beantwortung der Anfrage erinnert und um Mitteilung gebeten, ob er einen anderen Anwalt beauftragen werde. Nach erfolgloser Erinnerung am 20.11.2014 hat das SG den Kläger darauf hingewiesen, dass nach § 102 Abs. 2 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eine Klage als zurückgenommen gelte, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben werde. Sollte die Beantwortung der Frage nach der orthopädischen Behandlung und der Prozessführung ohne oder durch einen anderen Prozessbevollmächtigten nicht innerhalb von 3 Monaten ab Zugang dieses Hinweises erfolgen, gelte die Klage als zurückgenommen. Das von der Kammervorsitzenden mit vollem Namen gezeichnete Schreiben ist ausweislich der Postzustellungsurkunde am 15.12.2014 an der Anschrift des Klägers einem erwachsenen Familienangehörigen ("G, M") persönlich übergeben worden. Am 20.03.2015 hat das SG die Streitsache als erledigt ausgetragen.
Am 25.06.2015 hat sich der jetzige Bevollmächtigte für den Kläger bestellt. Der Kläger hat vorgetragen, er habe erst durch Einsichtnahme in die Gerichtsakte von dem Hinweisschreiben des Gerichts erfahren. Eine "M G" gebe es im Haushalt des Klägers nicht. Die Ehefrau des Klägers, Frau M1 G, habe keine Zustellung entgegengenommen. Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung hat er vorgelegt. Ihm liege auch keine Mandatskündigung durch den bisherigen Bevollmächtigten vor. Hinzu komme, dass er bereits im Fragebogen mitgeteilt habe, bei welchen Ärzten er in Behandlung sei. Ein Orthopäde werde im Fragebogen nicht erwähnt, weil er nicht von einem Orthopäden behandelt werde. Der Anfrage des SG habe es daher nicht bedurft und sie habe deshalb nicht die Rechtsfolge des §§ 102 Abs. 2 S. 1 SGG herbeiführen können. Es hätten auch keine sachlich begründeten Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers bestanden.
Das SG hat mit Gerichtsbe...