Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. fiktive Klagerücknahme. Ausnahmecharakter. Erfordernis gravierender und sachlich begründeter Anhaltspunkte für Wegfall des Rechtsschutzinteresses. Betreibensaufforderung. Unterschriftserfordernis
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Anwendung von § 102 Abs 2 S 1 SGG ist dem strengen Ausnahmecharakter der Norm Rechnung zu tragen.
2. Die Annahme einer Klagerücknahmefiktion ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Gericht gravierende, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers hat.
Orientierungssatz
Wenn eine Betreibensaufforderung Wirkung für die Beteiligten erzeugen soll, muss sie vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet werden (vgl BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 58/09 R = SozR 4-1500 § 102 Nr 1).
Normenkette
SGG § 102 Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 02.11.2009 aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob das vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 28 (23) SO 70/07 geführte Verfahren durch Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beendet worden ist.
Die Klägerin hatte vom 07.08.1986 bis zum 30.11.2004 Sozialhilfe nach dem damaligen Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von der Beklagten bezogen. Mit Bescheid vom 10.08.2006 nahm die Beklagte die Sozialhilfebewilligung nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) für diesen Zeitraum zurück und forderte die Klägerin zur Erstattung von 74.216,52 EUR auf. Bei der Klägerin sei von Anfang an verwertbares Vermögen vorhanden gewesen, zuletzt in Höhe von 42.648,16 EUR. Sie ordnete die sofortige Vollziehung an, weil die Gefahr bestünde, dass eine Entziehung von der Zahlungsverpflichtung durch Verlassen des Bundesgebietes erfolge.
Nachdem dieser Bescheid bestandskräftig geworden war, forderte die Beklagte die Klägerin zur Zahlung des Betrages auf. Nach einer ersten Mahnung erging eine Pfändungsverfügung vom 01.02.2007 an das Bankhaus I in E in Höhe von 75.728,52 EUR (einschl. Säumniszuschlag, Porto und Gebühren). Daraufhin erfolgte eine Drittschuldner-Zahlung in Höhe von 34.228,66 EUR, weiteres ausschüttungsfähiges Guthaben bestand bei der Bank nicht. Mit Schreiben vom 12.04.2007 erhob der Ehemann der Klägerin Widerspruch gegen die Pfändungsverfügung vom 01.02.2007. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.06.2007 wies die Beklagte diesen Widerspruch zurück. Der Rückforderungsbescheid sei rechtskräftig geworden und vollstreckbar.
Am 03.08.2007 hat der Ehemann der Klägerin für diese Klage vor dem VG Düsseldorf erhoben und beantragt, die Pfändungsverfügung aufzuheben.
Mit Vollmacht vom 08.08.2007 hat die Klägerin ihren Ehemann ermächtigt, "meine Rechtsangelegenheiten in der Klage [ ] wahrzunehmen". Mit Schriftsatz vom 18.08.2007 hat der Ehemann der Klägerin vorgetragen, der über viele Jahre angesparte Betrag sei als Absicherung im Krankheitsfall und für ein anständiges Begräbnis gedacht gewesen, weil die Klägerin und er nicht krankenversichert seien und eine Sterbeversicherung nicht bestehe; die Rückforderung sei rechtswidrig. Der angesparte Betrag stamme aus der Rente des Ehemannes der Klägerin und dürfte daher nicht gepfändet werden. Es sei zudem ein Mietrückstand von 1.926,40 EUR für die Zeit von April bis August 2007 entstanden.
Mit Beschluss vom 04.09.2007 hat das VG Düsseldorf das Verfahren an das SG Düsseldorf verwiesen. In ihrer Klageerwiderung vom 04.10.2007 hat die Stadtkasse der Beklagten ausgeführt, sie sei für die Pfändungsverfügung zuständig. Entscheidungen über die Übernahme von Mietrückständen seien allerdings dort nicht zu treffen; hierfür sei das zuständige Fachamt der Beklagten zuständig. Die Klageerwiderung wurde der Klägerin mit Verfügung vom 09.10.2007 zur Kenntnisnahme übersandt.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW) hatte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit Beschluss vom 27.06.2008 auf die Beschwerde der Klägerin festgestellt, dass ihre Klage gegen die Pfändungsverfügung vom 01.02.2007 aufschiebende Wirkung hat (SG Düsseldorf S 23 SO 69/07 ER / LSG NRW L 20 B 19/08 SO ER).
Mit gerichtlichem Schreiben vom 04.07.2008 wurde die Klägerin aufgefordert, die Klage "weitergehend" zu begründen und zu erläutern, "warum der Bescheid vom 01.02.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2007 Ihrer Ansicht nach rechtswidrig ist". Mit gerichtlichen Verfügungen vom 01.08, 29.08 und 10.10.2008 wurde die Klägerin erinnert. Am 12.11.2008 wurde dem Ehemann der Klägerin durch Postzustellungsurkunde ein gerichtliches Schreiben vom 07.11.2008 zugestellt, mit der das SG die Klägerin aufforderte, das Verfahren weiter zu betreiben. Das SG wies darauf hin, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn das Verfahren t...