Entscheidungsstichwort (Thema)

Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Rentenbeginn. Antragstellung nach dem 30.6.2003. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Wiedergutmachungsgedanke

 

Orientierungssatz

1. Ein in Israel gestellter Antrag auf Hinterbliebenenrente ist einem deutschen Altersrentenantrag nicht gem Art 27 Abs 2 SozSichAbk ISR gleichgestellt.

2. Die Rente eines Berechtigten des Personenkreises des § 1 ZRBG beginnt nicht vor dem aus § 99 SGB 6 resultierenden Zeitpunkt, wenn die Rentenantragstellung erst nach dem 30.6.2003 erfolgte.

3. Für diejenigen Berechtigten nach dem ZRBG, die das 65. Lebensjahr bereits unter der Geltung der RVO bzw des AVG vollendet haben, können die aufgrund der Beitragsfiktion des § 2 Abs 1 ZRBG anerkannten Beitragszeiten nicht für die Erfüllung der für einen Anspruch auf Altersruhegeld nach § 1248 Abs 5 RVO bzw § 25 Abs 5 AVG erforderlichen allgemeinen Wartezeit herangezogen werden (vgl SG Lübeck vom 23.4.2013 - S 6 R 353/11 und vom 24.4.2013 - S 45 R 675/11).

4. Die Rechtsprechung zur Verlängerung von Nachentrichtungsfristen ist nicht auf die Verlängerung der Antragsfrist nach § 3 Abs 1 ZRBG übertragbar.

5. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch, dessen Rückwirkung zu einem frühesten Rentenbeginn ab dem 1.1.2006 führen könnte, liegt hier nicht vor.

6. Auch aus dem Wiedergutmachungsgedanken und aus § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB 1 kann kein früherer Rentenbeginn abgeleitet werden.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18.07.2013 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist der Beginn einer der Klägerin zustehenden Regelaltersrente nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

Die Klägerin wurde 1922 in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Sie ist jüdischen Glaubens. Seit 1949 lebt sie in Israel und ist israelische Staatsbürgerin.

Am 11.09.1995 beantragte die J. G. I. & F. Ltd bei der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) für die Klägerin die "Anerkennung der Tätigkeiten in Rumänien/Polen/Ungarn/CSFR/Bulgarien/Jugoslawien als glaubhaft gemachte Beitragszeiten nach Para. 17a FRG und die Auszahlung einer Rente". Die Klägerin gab in diesem Zusammenhang an, von 1938 bis April 1944 in V. (im Jahr 1944 zu Ungarn gehörend) als Arbeiterin im Schneiderfach beziehungsweise Schneiderin tätig gewesen zu sein. Dann sei die Arbeit zwangsweise unterbrochen worden. Die Umgangssprache in ihrem Elternhaus sei Deutsch gewesen, auch habe es dort deutsche Bücher gegeben.

In einem weiteren Fragebogen gab sie die Jahre 1944 und 1945 als Jahre der Verfolgung an. Ihre Muttersprache sei Deutsch, diese Sprache habe sie im Herkunftsgebiet auch gebraucht. Umgangssprachen im Herkunftsgebiet seien Tschechisch, Deutsch und Ungarisch gewesen. Die Klägerin übersandte der BfA Erklärungen der Frau G und der Frau G, wonach die Muttersprache in ihrem Elternhaus Deutsch gewesen sei.

Die LVA Rheinprovinz als Rechtsvorgängerin der Beklagten (in der Folge Beklagte) führte in der Folgezeit Ermittlungen in Bezug auf die Zugehörigkeit der Klägerin zum deutschen Sprach- und Kulturkreis durch. Im Mai 1996 erklärte die Klägerin nochmals, dass ihre Umgangssprache Deutsch gewesen sei. Sie habe eine tschechische Schule besucht, aber deutschen Privatunterricht genommen. Im Jahr 1944 sei sie zunächst ins Ghetto M. eingewiesen und danach nach Auschwitz deportiert worden.

Eine Prüfung des israelischen Finanzministeriums vom 02.06.1996 kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin Deutsch als Muttersprache spreche. Auch im Elternhaus der Klägerin sei überwiegend Deutsch gesprochen worden. Der ungarische Rentenversicherungsträger teilte am 06.06.1996 mit, dass sie keine ungarischen Rentenversicherungszeiten der Klägerin bescheinigen könne. Das israelische Finanzministerium informierte die Beklagte mit Schreiben vom 15.08.1996 darüber, dass die Klägerin im Rahmen eines Entschädigungsverfahrens Jiddisch als Muttersprache angegeben habe.

Mit Bescheid vom 12.09.1996 lehnte die Beklagte die Anträge der Klägerin auf "Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung und auf Zahlung eines Altersruhegeldes" ab. Die Klägerin erfülle nicht die Wartezeit gemäß den §§ 1246 bis 1248, 1263 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und 34 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI). Sie erfülle weiter nicht die Voraussetzungen des § 17a des Fremdrentengesetzes (FRG), weil sie dem deutschen Sprach-und Kulturkreis nicht angehöre.

Die von ihr im Rahmen der Sprachprüfung erstellten Texte wiesen zahlreiche Fehler auf. Im Entschädigungsverfahren habe sie Jiddisch als Muttersprache angegeben. Zudem sei ihre Heimatstadt W vom russischen beziehungsweise ruthenischen Sprachgebrauch geprägt gewesen. Deutsch habe keine Rolle gespielt.

Am 24.09.1996 legte die Klägerin eine Vollmacht zugunsten ihres jetzigen Prozessbevollmäch...

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