Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht bei wesentlichem Mangel des Verfahrens
Orientierungssatz
1. Das Landessozialgericht kann ein Urteil des Sozialgerichts aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. § 103 SGG enthält eine zwingende Verfahrensvorschrift. Der Untersuchungsgrundsatz ist dann verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen.
2. Sind in Verbindung mit einem Antrag auf Entschädigung nach dem OEG zu einer erstatteten Strafanzeige Zeugen für einen vorsätzlichen tätlichen Angriff benannt worden, so muss das Sozialgericht nach der Offizialmaxime diese vernehmen, und zwar unabhängig davon, ob deren Anhörung im sozialgerichtlichen Verfahren beantragt worden ist.
3. Das Sozialgericht kann die Aufklärung der für den Sachverhalt entscheidenden Tatsachengrundlagen nicht einem Sachverständigen überantworten. Deren Klärung ist ausschließlich Aufgabe des Gerichts.
4. Ein Mangel des Verfahrens ist dann wesentlich und führt zur Aufhebung des ergangenen Urteils, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht bei ordnungsgemäßer Beweisaufnahme und Beweiswürdigung zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 12.07.2006 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Duisburg zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1963 geborene Klägerin erstattete im März 2003 Strafanzeige gegen ihren Bruder, den 1957 geborenen und zwischenzeitlich verstorbenen C N, weil dieser sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht habe. Hierzu schilderte sie gegenüber der Polizei insbesondere einen mehrfachen sexuellen Missbrauch dadurch, dass ihr Bruder ihre Schamlippen und ihre Scheide mit den Fingern manipuliert habe sowie - wobei ihre Erinnerung hierzu ungenau ist - weiteren sexuellen Missbrauch durch Oralverkehr. Zugleich schilderte sie körperliche Misshandlungen im Rahmen von Züchtigungen durch ihren Vater sowie von ihr ebenfalls als sexuellen Missbrauch eingeordnete Handlungen ihres bereits verstorbenen Großvaters. Die Klägerin benannte hierzu als mögliche Zeugen:
den Beschuldigten C N - Bruder der Klägerin (zwischenzeitlich verstorben) -, den Beschuldigten L N - Vater der Klägerin -, F N - Mutter der Klägerin -, K N - Bruder der Klägerin -, G N - Bruder der Klägerin -, N N1 - ehemalige Schwägerin der Klägerin und ehemalige Ehefrau des G N -.
Mit Verfügung vom 24.04.2003 stellte die Staatsanwaltschaft E das Verfahren wegen Eintritts der Verjährung und bzgl. des Großvaters, wegen dessen Todes sowie bzgl. des Bruders teilweise wegen Strafunmündigkeit zum Tatzeitpunkt ein.
Wegen des durch ihren Bruder begangenen sexuellen Missbrauchs beantragte die Klägerin im März 2003 Versorgungsleistungen nach dem OEG. Sie machte geltend, bei ihr liege eine aus dem Missbrauch herrührende posttraumatische Belastungsstörung mit Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, schneller Erschöpfbarkeit, Antriebsschwäche und Stimmungsschwankungen vor.
Das beklagte Land lehnte nach Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten sowie zweier Arztberichte der Paracelsus X-klinik in Bad F und der Klinik X den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 25.11.2003 ab: Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des hier einschlägigen § 10 a OEG bereits deshalb nicht, weil die Schädigungsfolgen keine MdE um mindestens 50 v.H. bedingten; eine Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 1 OEG erübrige sich damit.
Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch bezüglich die Klägerin insbesondere auf ein laufendes Rentenverfahren, in welchem ein Gutachten eingeholt werde. Der Beklagte wies nach Beiziehung eines unter dem 06.08.2003 von dem Neurologen und Psychiater Dr. E erstellten Sachverständigengutachtens den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 19.03.2004 zurück: Die versorgungsärztliche Auswertung des Gutachtens habe erheben, dass bei der Klägerin eine schwere depressive Störung, der Verdacht auf eine frühe Störung und eine posttraumatische Belastungsstörung vorlägen; die depressive Störung stehe dabei im Vordergrund, diese resultiere aber aus der familiären Belastung der Klägerin als alleinerziehende Mutter. Die posttraumatische Belastungsstörung rechtfertige demgegenüber für sich alleine keine MdE um wenigstens 50 v.H ...
Hiergegen richtete sich die am 19.04.2004 zum Sozialgericht (SG) Duisburg erhobene Klage, zu deren Begründung insbesondere vorgebracht wurde, bei ihr, der Klägerin, liege sehr wohl eine MdE von mindestens 50 v. H. vor. Ihre Krankheitsgeschichte sei in den medizinischen ...