Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenversicherungspflichtiges Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis. Ghettoarbeit. Ghetto Bendzin. Zahlbarmachung von Ghettorenten. Glaubhaftmachung

 

Orientierungssatz

1. Glaubhaftmachung - hier von behaupteten Beschäftigungen in dem Ghetto Bendzin nach Maßgabe des ZRBG in der Zeit von August 1940 bis September 1942 - bedeutet mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie behauptet wird. Es muss also mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Dabei sind gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich (vgl BSG vom 8.8.2001 - B 9 V 23/01 B = SozR 3-3900 § 15 Nr 4).

2. Von einem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto ist auszugehen, wenn der NS-Verfolgte durch eine Aufenthaltsbeschränkung auf einen zugewiesenen - in der Regel von Juden bewohnten - Wohnbezirk ("Ghetto") vollständig und nachhaltig von der Umwelt abgesondert wurde (vgl BSG vom 14.12.2006 - B 4 R 29/06 R = SozR 4-5075 § 1 Nr 3).

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16.12.2005 abgeändert.

Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 28.07.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.04.2004 verurteilt, die Altersrente der Klägerin unter Berücksichtigung einer weiteren Ghetto-Beitragszeit vom 01.01.1941 bis zum 30.09.1942 neu zu berechnen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer höheren Altersrente unter Berücksichtigung einer Beitragszeit nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Dabei ist streitig, ob die Klägerin bereits vom 01.08.1940 bis zum 30.09.1942 während eines zwangsweisen Aufenthaltes in einem Ghetto eine Beschäftigung im Sinne dieses Gesetzes ausgeübt hat.

Die Klägerin wurde ... 1913 in B/Polen geboren. Sie ist als Verfolgte im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. 1950 wanderte sie nach Israel aus und erwarb die israelische Staatsangehörigkeit.

Das Bezirksamt für Wiedergutmachung S hatte der Klägerin 1958 eine Entschädigung für den in der Zeit vom 15.01.1940 bis zum 08.05.1945 erlittenen Freiheitsschaden bewilligt. Die Klägerin hatte anlässlich des Entschädigungsantrages angegeben, von 3/1940 bis 7/1942 im "ZAL" Rosner Bendzin, von 7/1942 bis 1/43 im Ghetto Bendzin, von 1/1943 bis 2/1944 im "ZAL" Annaberg und von 2/1944 bis 5/1945 in Langenbielau gewesen zu sein. In einer eidesstattlichen Versicherung vom Juli 1956 hatte sie ergänzend erklärt, dass im Oktober 1939 in Bendzin die Verfolgungsmaßnahmen begonnen hätten. Sie habe eine weiße Armbinde mit blauem Davidstern tragen und Zwangsarbeit leisten müssen. Das Betreten bestimmter Straßen sei streng verboten gewesen und ab 6 Uhr abends habe für sie ein Ausgehverbot bestanden. Der Verstoß gegen diese Verbote sei mit Verschickung oder mit dem Tode bestraft worden. Im Schneiderressort R. habe sie Zwangsarbeit leisten müssen und sei täglich dorthin und zurück geführt worden. Im Juli 1942 habe sie im Ghetto Bendzin-Kamionka in einer kleinen Gasse eine Unterkunft zugewiesen bekommen. Der Ghettobereich habe seit Anfang des Jahres 1940 bestanden und nach und nach seien dort immer mehr Juden eingewiesen worden. Im Januar 1943 sei sie in das Zwangsarbeiterlager Annaberg gekommen. Eidesstattlich bestätigt wurden diese Angaben von D G geb. 1917, und M Z, geb. ... 1923. D G erklärte hierzu, dass sie selbst seit Mitte 1940 im Ghetto-Kamionka gelebt habe und wisse, dass die Klägerin dort später ebenfalls untergebracht worden sei.

Im Rahmen einer im April 1971 aufgrund eines Antrags auf Entschädigung wegen Schaden an Körper und Gesundheit durchgeführten Begutachtung gab die Klägerin an, dass sie ab Dezember 1939 im Ghetto Bendzin in einem deutschen Betrieb "Zwangsschneiderin" gewesen sei.

Am 29.03.1990 beantragte die Klägerin (erstmalig) eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz/Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (FRG/WGSVG) und gab hierzu an, sie habe von August 1940 bis Januar 1943 in Bendzin bei den Firmen R und M als Schneidergehilfin (Näherin) gearbeitet.

Die Beklagte erkannte die Zeit vom 01.08.1040 bis zum 31.01.1943 als glaubhaft gemachte Arbeitszeit und die Zeit vom 15.01.1940 bis zum 08.05.1945 als Verfolgungsersatzzeit an und stellte die diesbezüglichen Zeiten im Versicherungsverlauf fest. Nachdem die Klägerin von der Möglichkeit einer Nachentrichtung von Beiträgen für diese Zeiten keinen Gebrauch gemacht hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13.06.2000 einen Anspruch auf Regelaltersrente ab.

Am 19.07.2002 stellte die Klägerin bei der Beklagten ei...

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