Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB-Herabsetzung. sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Bekanntgabe des Bescheids nach Herabsetzungsdatum. unzulässige Rückwirkung. Teilrechtswidrigkeit. zeitliche Teilbarkeit des Bescheids. keine Rechtswidrigkeit des Gesamtbescheids. Wirksamkeit ab Bekanntgabe. GdB-Feststellung. dreijährige Anfallsfreiheit bei Epilepsie. Versorgungsmedizinische Grundsätze
Orientierungssatz
1. Ein Bescheid, der einen Grad der Behinderung (GdB) zu einem bestimmten Zeitpunkt herabsetzt, ist dergestalt (zeitlich) teilbar, dass er auch die Herabsetzung zu einem späteren Zeitpunkt beinhaltet (so im Ergebnis auch LSG Berlin-Potsdam vom 23.7.2015 - L 11 SB 157/11 und LSG Essen vom 16.11.2018 - L 13 SB 280/17; entgegen LSG Berlin-Potsdam vom 28.3.2019 - L 13 SB 101/16).
2. Zur einzelfallbezogenen Herabsetzung des GdB bei epileptischen Anfällen nach dreijähriger Anfallsfreiheit (Teil B Nr 3.1.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze - VMG) unter Berücksichtigung von Nervenlähmungen (Teil B Nr 18.13 VMG) und einer sich verstärkten psychischen Störung mit Depression und Angst (Teil B Nr 3.7 VMG).
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 17.05.2019 abgeändert und die über das Teilanerkenntnis des Beklagten hinausgehende Klage wird abgewiesen.
2. Der Beklagte hat dem Kläger 1/10 der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung (SGB IX) von 50 auf 40.
Bei dem am 1973 geborenen Kläger traten im Juni 2013 zwei fokal eingeleitete und sekundär generalisierte Krampfanfälle auf. Der Beklagte stellte mit Neufeststellungsbescheid vom 28.03.2014 mit Wirkung ab dem 08.07.2013 einen GdB in Höhe von 50 bei dem Kläger fest. Hierbei berücksichtigte er folgende Beeinträchtigungen:
1. Anfallsleiden (Einzel-GdB in Höhe von 50)
2. Radialisteilparese rechts (Einzel-GdB in Höhe von 20)
Im Juli 2017 überprüfte der Beklagte diese Feststellung von Amts wegen und zog Befundberichte der Diplom-Psychologin Sch und des Neurologen und Psychiaters Dr. G sowie einen Entlassungsbrief der A Kliniken B W vom 27.06.2016 bei. Die Klinik stellte die Diagnosen:
1. sonstige phobische Störungen (Angst vor dem erneuten Auftreten eines Krampfanfalls)
2. dissoziative Bewegungsstörungen
3. chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
Zur Auswertung dieser Unterlagen holte der Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. H vom 14.09.2016 ein, die vorschlug, für das Funktionssystem Nervensystem und Psyche nur noch einen Einzel-GdB in Höhe von 40 zu berücksichtigen. Darin enthalten seien das gebesserte Anfallsleiden - kein erneuter Anfall seit 2013 - mit einem GdB in Höhe von nur noch 40 und eine mittlerweile entstandene psychische Störung mit einem GdB in Höhe von 20. Die Radialisteillähmung rechts rechtfertige weiterhin einen Einzel-GdB in Höhe von 20. Der Gesamt-GdB betrage nur noch 40. Nach Anhörung des Klägers stellte der Beklagte durch Bescheid vom 24.11.2016 einen GdB in Höhe von 40 fest und ging hierbei von folgenden Beeinträchtigungen aus:
1. Anfallsleiden, psychische Störung (Einzel-GdB in Höhe von 40)
2. Radialisteillähmung (Einzel-GdB in Höhe von 20) Der Bescheid sei ab dem 26.11.2016 wirksam.
Am 15.12.2016 legte der Kläger gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Der Beklagte forderte sodann einen weiteren Befundbericht der Diplom-Psychologin Sch und der Hausärztin Dr. D an. Letztere übersandte auch Fremdbefunde. Der Beklagte holte eine gutachtliche Stellungnahme der Ärztin Dr. H - Sch vom 01.05.2017 ein, die das Anfallsleiden sogar nur noch mit einem GdB in Höhe von 30 bewertete. Unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers durch Widerspruchsbescheid vom 27.07.2017 als unbegründet zurück.
Der Kläger hat hiergegen am 15.08.2017 Klage beim Sozialgericht Mainz (SG) erhoben.
Das SG hat Befundberichte beim Neurologen Dr. G , der Diplom-Psychologin Sch und der Hausärztin des Klägers Dr. D beigezogen. Sodann hat es gem. den §§ 103, 106 Abs. 3 Nr. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Dr. G zum Sachverständigen ernannt. In dessen neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 08.08.2018 hat dieser bestätigt, dass nach drei Jahren Anfallsfreiheit etwa im Juni 2016 eine Veränderung der Beeinträchtigung des Klägers eingetreten sei. Ab diesem Zeitpunkt sei das Anfallsleiden nur noch mit einem GdB in Höhe von 30 zu bewerten. Die zum Zeitpunkt des angefochtenen Widerspruchsbescheids vorliegende „Psychische Störung mit Depression und Angst“ hat Dr. G mit einem GdB in Höhe von 20 bewertet. Es liege unter der laufenden Psychotherapie und gebesserten psychosozialen Umständen ein durchaus kompensiertes klinisch...