Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Spätschaden iSd § 12a Abs 1 S 2 SGB 7. Vermutungsregelung. ursächlicher Zusammenhangs des Gesundheitsschadens mit der Lebendorganspende. einschränkende Auslegung. generelle Geeignetheit. aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Kenntnisstand. Beweis. chronische Erschöpfung infolge einer Lebendnierenspende
Leitsatz (amtlich)
1. Der "Spätschaden" iSd § 12a Abs 1 S 2 SGB VII ist dadurch gekennzeichnet, dass er zeitlich nach der Spende einschließlich der unmittelbar danach stattfindenden Behandlung eintritt. Auf den zeitlichen Abstand des Schadenseintritts zur Lebendorganspende kommt es nicht an.
Der Begriff des Spätschadens schließt den des Erstschadens ein, er bezeichnet nicht nur Folgeschäden einer bereits eingetretenen Schädigung.
§ 12 a Abs 1 S 2 SGB VII kann entgegen seiner sprachlichen Fassung nicht dahin verstanden werden, dass die Anwendung der Vermutungsregelung die vorherige Feststellung eines ursächlichen Zusammenhangs des Gesundheitsschadens mit der Lebendorganspende voraussetzt.
2. Die Vermutungsregelung ist einschränkend dahin auszulegen, dass sie nur anwendbar ist, wenn die Spende nach aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Kenntnis generell geeignet ist, den in Rede stehenden Schaden zu verursachen. Es gilt der allgemeine beweisrechtliche Grundsatz, dass die Beurteilung medizinischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, der nicht zwingend das Bestehen einer anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung voraussetzt, aufbauen muss.
3. Der aktuelle Kenntnisstand erlaubt die Feststellung der generellen Geeignetheit der Lebendnierenspende zur Verursachung länger andauernder Erschöpfungssyndrome.
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 8.10.2018 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte unter entsprechender Änderung des Bescheids vom 22.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.1.2015 verurteilt wird, der Klägerin ab dem 1.8.2012 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. zu gewähren.
2. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin und Berufungsbeklagte als Folge einer Lebendnierenspende an einem chronischen Erschöpfungssyndrom bzw. einer Neurasthenie leidet und deswegen einen Anspruch auf eine Verletztenrente hat.
Die 1957 geborene Klägerin ließ sich am 23.11.2010 im Transplantationszentrum der Universitätsmedizin M für ihren erwachsenen Sohn ihre linke Niere entnehmen. Während des laparoskopisch durchgeführten Eingriffs musste wegen Verwachsungen und anatomisch schwieriger Verhältnisse auf eine offene Nephrektomie übergegangen werden. Im weiteren Verlauf bildete sich eine Pankreasfistel. Vom 29.1.2011 bis zum 3.2.2011 befand sich die Klägerin erneut unter der Hauptdiagnose „Pankreasfistel“ in stationärer Krankenhausbehandlung.
Mit Schreiben vom 15.2.2011 zeigte die Krankenkasse der Klägerin bei der Beklagten das Vorliegen eines Arbeitsunfalles in Form von Komplikationen nach Nierenspende mit der Folge einer Pankreasfistel an. Der Chirurg Dr. W bestätigte mit Schreiben vom 11.4.2011, dass die - komplett verheilte - Pankreasfistel Folge der Nierenentnahme gewesen sei.
Die Klägerin berichtete in der Nachsorgesprechstunde am 2.3.2011 und seitdem regelmäßig über gelegentliche Müdigkeit und Kopfschmerzen. In einem Ambulanzbrief vom 24.8.2012 wurde mitgeteilt, am 16.8.2012 habe die Klägerin über ein insgesamt verschlechtertes Gesamtbefinden mit vermehrter Erschöpfbarkeit, Müdigkeit, Leistungsschwäche und Konzentrationsschwierigkeiten sowie über einen Schwächeanfall am 14.8.2012 berichtet. Das aktuelle unspezifische Beschwerdebild sei differentialdiagnostisch am ehesten funktionell bedingt und gut mit einem Erschöpfungssyndrom zu vereinbaren, welches möglicherweise mit der komplizierten Lebendnierenspende assoziiert sei. Als weitere psychosomatische Auslöser müssten differenzialdiagnostisch sowohl die langjährige, intensive Pflege des schwer körperlich behinderten und schwer nierenkranken Sohnes, als auch eine berufliche Stresssituation im Sinne einer psychosozialen und sozioemotionalen Belastungsreaktion bzw. einer Somatisierungsstörung diskutiert werden.
In einem von der Beklagten beigezogenen Bericht vom 19.3.2012 teilte der Psychotherapeut Dipl. Psych. Z mit, dass sich bei der Klägerin infolge des Eingriffs ein Fatigue-Syndrom mit Leistungseinbußen, vermehrter Müdigkeit und gedrückter Stimmungslage ausgebildet habe. Nach stufenweiser Wiedereingliederung als Sachbearbeiterin in der Stadtverwaltung seit 11.4.2011 werde diese ihren Angaben zu Folge den beruflichen Anforderungen nur noch sehr eingeschränkt gerecht, so dass sie ihre Arbeitszeit auf halbtags habe reduzieren müssen.
Auf Anfrage der Beklagten führte der behandelnde Nephrologe Prof. Dr....