Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Verordnung. Polyglobulin bei chronischem Guillain-Barré-Syndrom -Wirtschaftlichkeitsprüfung. Prüfgremien. Ermessensentscheidung bei Regress wegen unzulässiger Off-Label-Use-Verordnung
Orientierungssatz
1. Die Verordnung von Polyglobulin zur Behandlung des chronischen Guillain-Barré-Syndrom (CIDP) im Rahmen des Off-Label-Use ist nicht zulässig.
2. Hinsichtlich des "Ob" der Festsetzung eines Regresses bei einer unzulässigen Off-Label-Use-Verordnung haben die Wirtschaftlichkeitsprüfungsinstanzen zwar kein Ermessen (vgl BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 37/08 = SozR 4-2500 § 106 Nr 26, RdNr 43). Dies mag im Regelfall auch für das "Wie" der Regressfestsetzung, dh die Höhe des Regresses, gelten. Bei Vorliegen extremer Besonderheiten ist jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz begründet.
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 13.05.2009 geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 24.06.2004 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, über einen Regress wegen der Verordnung von Polyglobulin-Infusionslösungen erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu entscheiden. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Die Klägerin und der Beklagte tragen jeweils die Hälfte der Kosten beider Rechtszüge. Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist, ob der Beklagte zu Recht die Festsetzung eines Regresses gegenüber der zu 1 beigeladenen Gemeinschaftspraxis wegen der Verordnung von Polyglobulin-Infusionslösungen für die Patientin W S (zukünftig: Versicherte) in den Quartalen III/2001 bis II/2002 in Höhe von 22.692,28 € abgelehnt hat.
Bei der 1954 geborenen Versicherten diagnostizierte der Neurochirurg Dr A im Juli 1999 eine sensomotorische Neuropathie unklarer Genese. In dem Entlassungsbericht über stationäre Aufenthalte der Patientin in der Neurologischen Klinik des Klinikums der Stadt L im August und September 1999 wurde als Diagnose ua angeführt: "chronisches Guillain-Barre-Syndrom (CIDP)". Weiter hieß es: Differenzialdiagnostisch sei der Verdacht auf ein chronisches blandes GuillainBarre-Syndrom geäußert worden. Während des stationären Aufenthalts sei ein Therapieversuch mit Immunglobulin-G (Octogam) über sechs Tage unternommen worden; bereits nach drei Tagen habe sich eine deutliche Befundbesserung eingestellt; im Verlauf hätten sich keine Paresen mehr nachweisen lassen. Dieser Behandlungserfolg unterstütze die Diagnose eines chronischen Guillain-Barre-Syndroms. Bei erneuter Verschlechterung der Symptomatik solle wiederum mit Immunglobulin behandelt werden. In dem Entlassungsbericht über die stationäre Behandlung der Versicherten in der Neurologischen Klinik des Klinikums der Stadt L vom 14. bis 22.12.1999 wurde die Diagnose "chronisches Guillain-Barre-Syndroms (CIDP)" gestellt. Außerdem ist in diesem Bericht festgehalten, die neurophysiologischen Untersuchungen hätten eine Befundbesserung belegt; nach einer fünftägigen Immunglobulin-Therapie während des stationären Aufenthalts sei es zu keiner weiteren wesentlichen Befundbesserung gekommen. Vom 16. bis 20.1.2001 wurde die Versicherte erneut in der Neurologischen Klinik des Klinikums der Stadt L stationär behandelt. Als Diagnose wurde jetzt im Entlassungsbericht "chronische idiopathische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)" aufgeführt. In diesem Bericht hieß es ferner, während der stationären Behandlung sei eine intravenöse Immunglobulin-Therapie über fünf Tage durchgeführt worden; eine Wiederholung der intravenösen Immunglobulingabe werde empfohlen; alternativ sei an eine Cortison-Dauertherapie oder Carbamazepin-Dauertherapie zu denken.
Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr E führte in einem Arztschreiben an die Beigeladene zu 1 vom August 2001 aus: Chronisch entzündliche Neuropathien würden üblicherweise mit einer stoßweisen Immunglobulingabe behandelt. Der zurückliegende Krankheitsverlauf zeige, dass die nach Immunglobulingabe symptomfreien bzw symptomarmen Intervalle immer kürzer würden. Oberarzt Dr B von der Neurologischen Klinik L habe deshalb in einem Gespräch vorgeschlagen, die Dosis des Immunglobulins bei einem nächsten Zyklus auf zumindest 150 Gramm zu erhöhen; zwar bestehe die Möglichkeit einer zusätzlichen Cortisontherapie; die Behandlungserfolge seien hierbei aber häufig wesentlich weniger gut als unter der Immunglobulingabe; darüber hinaus sei die Cortisontherapie mit mehr Nebenwirkungen verbunden.
In den Quartalen III/2001 bis II/2002 verordneten die Ärzte der Beigeladenen zu 1 der Versicherten Polyglobulin-Infusionslösungen. In einem Bericht der Neurologischen Klinik M der Universität H vom September 2002 über eine Verlaufskontrolle hieß es: Bei der Versicherten liege eine CIDP vor. Die Behandlung mit Immunglobulinen habe zunächst einen sehr guten Erfolg gebracht; der Effekt habe jedoch später deutlich nachgelassen u...