Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Leistungen. Betreuung eines erwachsenen behinderten Menschen in einer Pflegefamilie. Art und Maß der Leistungserbringung. Deckung des individuellen Bedarfs
Orientierungssatz
1. Der Leistungskatalog des § 54 Abs 1 SGB 12 aF ist nicht abschließend, sondern offen und umfasst auch die Betreuung eines behinderten Erwachsenen in einer Pflegefamilie.
2. Über Art und Maß der Leistungserbringung entscheidet der Sozialhilfeträger nach pflichtgemäßem Ermessen. Dabei hat der Leistungsberechtigte - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen - einen Anspruch auf Gewährung von bedarfsdeckenden Leistungen (§ 17 Abs 1 SGB 12 iVm § 9 SGB 12).
Nachgehend
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 03.04.2019 abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
2. Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
3. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung unbefristeter und höherer Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Unterbringung in einer Pflegefamilie nach dem Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung (im Folgenden: SGB XII a.F.) bzw. nach den Vorschriften der §§ 90 ff. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - in der seit dem 01.01.2020 geltenden Fassung (im Folgenden: SGB IX n.F.) für die Zeit ab dem 01.10.2017.
Bei dem 1998 geborenen Kläger liegen eine leichte Intelligenzminderung mit Verhaltensauffälligkeiten, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) - Kernsymptome, die das Ausmaß einer kognitiven Beeinträchtigung überschreiten, und Verhaltensauffälligkeiten nach frühkindlicher Deprivation vor. Ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 wegen einer globalen Entwicklungsstörung zuerkannt (vgl. Bescheid des Landesamtes für Soziales, Jugend und Versorgung vom 14.09.2015).
Seit dem Jahr 2000 lebt der Kläger als Pflegekind in Vollzeitpflege bei einer Pflegefamilie, den Eheleuten S , in M . Bis zu seiner Volljährigkeit stand er unter der Vormundschaft des Jugendamts der Beklagten. Seit dem 01.10.2016 ist Herr T P für ihn durch das Amtsgericht Mainz als gesetzlicher Betreuer für die Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge, Postvollmacht und Vermögenssorge bestellt (vgl. Betreuerausweis vom 02.09.2016).
Der Kläger erhielt zunächst Leistungen der Jugendhilfe gemäß §§ 27, 33 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) in Form der Unterbringung in einer Pflegefamilie. Ein Pflegegeld wurde zuletzt in Höhe von monatlich 1.095,00 € gewährt (vgl. Bescheid des Amtes für Jugend und Familie vom 20.10.2014).
Nachdem bei dem Kläger eine geistige Behinderung festgestellt worden war, wurden ihm mit Bescheid der Beklagten vom 10.09.2015 für die Zeit vom 01.10.2015 bis zum 30.09.2016 Eingliederungshilfeleistungen nach dem Sechsten Kapitel des SGB XII a.F. als Sachleistung an die Pflegeeltern im Umfang eines Pflegegeldes in Höhe von 1.095,00 € monatlich bewilligt. Mit Bescheid vom 13.09.2016 gewährte die Beklagte dem Kläger diese Leistungen für die Zeit vom 01.10.2016 bis zum 30.09.2017 weiterhin in gleicher Höhe.
Am 25.11.2016 beantragte der Betreuer des Klägers für diesen die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII. Nachdem er erfahren hatte, dass der Lebensunterhalt des Klägers durch die Beklagte über die an die Pflegeeltern ausgezahlte Eingliederungshilfe gesichert sei und es insofern an der Bedürftigkeit fehle, nahm er den Antrag mit E-Mail vom 17.01.2017 anschließend wieder zurück.
Am 05.08.2017 beantragte der Betreuer des Klägers die Weitergewährung der Eingliederungshilfeleistungen in Form der Unterbringung in der Pflegefamilie über den 30.09.2017 hinaus. Er gab an, der Bedarf habe sich insoweit geändert, als der Kläger nach der Beendigung der Schule nun einer geringfügigen Beschäftigung als Ordner von Mainz 05 nachgehe, wobei die Höhe des Einkommens hieraus schwanke. Ab dem 21.08.2017 werde er an einer Maßnahme im Eingangsverfahren nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung (im Folgenden: SGB IX a.F.) und anschließend im Berufsbildungsbereich § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX a.F. in der Firma „i gGmbH M “ teilnehmen. Dadurch erwerbe er einen Anspruch auf Ausbildungsgeld in Höhe von monatlich 67,00 €.
Nachdem der Betreuer des Klägers mit E-Mails vom 22.10.2017 und 24.10.2017 an die Entscheidung über den Antrag erinnert hatte, teilte die Beklagte ihm mit E-Mail vom 25.10.2017 mit, dass sie die Eingliederungshilfe, in Form von Zahlung des Pflegegeldes (1.095,00 €), rückwirkend ab 01.10.2017 aufgenommen habe. Die Pflegeeltern erhielten in den nächsten Tagen die Nachzahlung für den Monat Oktober 2017 und ab dem 01.11.2017 die mona...