Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. anderes Aufenthaltsrecht. Freizügigkeitsberechtigung durch Erwerbstätigenstatus. Anforderungen an die selbstständige Tätigkeit. Niederlassungsbegriff. Auswirkung von strafbaren Handlungen oder Ordnungswidrigkeiten
Leitsatz (amtlich)
1. Der Begriff der Niederlassung ist weit zu fassen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die selbständige Erwerbstätigkeit eines Unionsbürgers nach der Systematik des § 2 Abs 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) entweder unter § 2 Abs 2 Nr 2 oder unter § 2 Abs 2 Nr 3 FreizügG/EU fällt.
2. Besonderheiten des mitgliedsstaatlichen Gewerberechts sind bei der Beurteilung der Möglichkeit des Unionsbürgers, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, zu berücksichtigen. Sofern dem Merkmal der "festen Einrichtung", von der aus die Tätigkeit ausgeübt werden muss, nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH noch Bedeutung zugemessen werden kann, haben diese Besonderheiten Einfluss auf die an das Merkmal der "festen Einrichtung" zu stellenden Anforderungen.
3. Die geringe wirtschaftliche Bedeutung einer selbständigen Tätigkeit ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Gleicht sich die Selbständigkeit in ihrer Bedeutung für die Teilnahme des Unionsbürgers am Wirtschaftsleben wegen geringer wirtschaftlicher Risiken derjenigen einer Arbeitnehmertätigkeit an, kann ein Gewinn in Höhe der Vergütung ausreichen, die der EuGH für die nicht nur untergeordnete und unwesentliche Marktteilnahme von Arbeitnehmern für ausreichend erachtet. Andererseits kann dann auch verstärktes Gewicht auf die Regelmäßigkeit der Tätigkeit zu legen sein.
4. Eine strafbare Tätigkeit unterfällt nicht dem Schutz der unionsbürgerrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung. Das gilt nicht in gleichem Maß für ordnungswidrige Tätigkeiten. Handelt der Unionsbürger in Ausübung seiner selbständigen Tätigkeit ordnungswidrig, kann die Schutzrichtung des Ordnungswidrigkeitentatbestands Einfluss auf die Anerkennung der Erwerbstätigkeit als von § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU erfasst haben.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. Februar 2016 wird abgeändert.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern ab dem 1. März 2016 vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2016 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich jeweils 305,80 EUR für den Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2), jeweils 81,16 EUR für den Antragsteller zu 3) und die Antragstellerin zu 4), 53,43 EUR für die Antragstellerin zu 5) und 13,44 EUR für den Antragsteller u 6) zu zahlen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darüber, ob die Antragsteller auf einen Leistungsantrag vom 10. Dezember 2015 hin Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts haben und, falls dies bejaht wird, der Antragsgegner als die in Halle zur einheitlichen Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende gebildete gemeinsame Einrichtung oder der beigeladene örtliche Träger der Sozialhilfe den Antragstellern vorläufig existenzsichernde Leistungen zu erbringen hat.
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Nach ihrem Vortrag sind sie im September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.
Der 1986 geborene Antragsteller zu 1) ist seit September 2015 mit der 1989 geborenen Antragstellerin zu 2) verheiratet. Die Eheleute haben vier gemeinsame Kinder, den 2006 geborenen Antragsteller zu 3), die 2007 geborene Antragstellerin zu 4), die 2011 geborene Antragstellerin zu 5) und den Antragsteller zu 6). Letzterer ist ausweislich der am 8. Dezember 2015 ausgestellten Geburtsurkunde der Stadt H. am ... 2015 in H. geboren. Nach der Anmeldebestätigung vom 19. September 2015 sind die Antragsteller am 17. September 2015 in die ...-Straße ... (bei S.) eingezogen. Vor der Heirat lautete der Nachname der Antragstellerin zu 2) S. Der Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) haben in Rumänien keinen Beruf erlernt. Der Antragsteller zu 3) und die Antragstellerin zu 4) besuchen seit dem 27. Januar 2016 die Grundschule.
Aufgrund der Bewilligungsentscheidung der Familienkasse vom 9. Februar 2016 erhielt der Antragsteller zu 6) Kindergeld zunächst in Höhe von monatlich 188,00 EUR. Wegen aus Rumänien gezahlten Kindergelds hat die Familienkasse mit weiterem Bescheid vom 9. Februar 2016 ab Januar 2016 Kindergeld in Höhe von insgesamt 520,21 EUR für die Antragsteller zu 3) bis 5) vorläufig festgesetzt.
Am 10. Dezember 2015 beantragten die Antragsteller über ihren nunmehrigen Prozessbevollmächtigten die Gewährung von Leistungen nach ...