Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistung zur medizinischen Rehabilitation. psychische Erkrankung. einstweiliger Rechtschutz
Leitsatz (amtlich)
1. Wenn nicht feststeht, ob für die Antragstellerin eine geeignete ambulante Rehabilitationseinrichtung in deren häuslicher Umgebung zur Verfügung steht, kann das nach § 13 SGB 6 dem Rentenversicherungsträger als Rehabilitationsträger eingeräumte Ermessen nicht auf Null reduziert sein.
2. Ein Anordnungsgrund, der die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigt, kann vorliegen, wenn bei einer psychiatrischen Erkrankung eine Chronifizierung droht.
3. Im Wege der einstweiligen Anordnung kann dann eine Verpflichtung zur (unverzüglichen) Neubescheidung erfolgen.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. Juni 2010 wird abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, bis zum 1. Oktober 2010 erneut über den Antrag der Antragstellerin vom 27. Februar 2009 auf Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die Gewährung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation.
Die 1959 geborene Antragstellerin war bis Ende März 2009 als Vertriebsassistentin Export, Mitarbeiterin Kundenmanagement, bei der D. & F. Vertriebs GmbH in Z. beschäftigt. Sie arbeitete nach eigenen Angaben in einer 40-Stunden-Woche, wobei überwiegend Bildschirmarbeit angefallen sei, die eine außerordentliche Konzentration erfordert habe. Seit 30. März 2009 war sie arbeitsunfähig. Nach einem Befundbericht ihrer Hausärztin H., Fachärztin für Allgemeinmedizin, vom 13. Mai 2009 litt sie an einer endogenen Depression und einem allgemeinen Erschöpfungszustand. Sie habe Schlafstörungen, sei unruhig, kraftlos, fühle sich ausgebrannt und habe kein Freudempfinden mehr. Da der 29-jährige Sohn an S. erkrankt sei, sei sie ständig angespannt. Nach der Einnahme von Medikamenten sei es bei der Antragstellerin zu einer geringfügigen Besserung gekommen.
Am 18. Mai 2009 beantragte die Antragstellerin Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Mit Bescheid vom 16. Juni 2009 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab, da die persönlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Nach den Leitlinien zur Rehabilitationsbedürftigkeit erfordere eine Depression eine regelmäßige ambulante nervenärztliche Mitbehandlung. Das Ausmaß der Funktions- und Fähigkeitsstörungen bei der Antragstellerin begründe keine Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Auch nach den Leistungsgesetzen eines anderen Rehabilitationsträgers sei sie nicht rehabilitationsbedürftig. Deshalb sei der Antrag nicht weiterzuleiten gewesen. Am 6. Juli 2009 erhob die Antragstellerin Widerspruch. Die Antragsgegnerin holte einen Befundbericht von Dr. O., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 4. September 2009 ein. Dieser teilte mit, es liege bei der Antragstellerin eine mittelgradige depressive Episode vor. Im Zusammenhang mit einer erheblichen Belastungssituation (Erkrankung des Sohnes an S., Todesfall in der Familie) habe bei ihr seit 2008 eine Depressivität eingesetzt, welche von Affektlabilität, Zukunftsängsten, Grübeln und Schlaflosigkeit begleitet sei. Es liege eine Leistungsinsuffizienz mit Anhedonie, Minderung an Elan, Antrieb und Spannkraft vor. Eine Psychotherapie werde bislang nicht durchgeführt.
Die Antragsgegnerin beauftragte außerdem Dr. O., Facharzt für Psychiatrie/Psychotherapie und Neurologie, mit der Erstellung eines Gutachtens auf seinem Fachgebiet. Im Gutachten vom 1. Dezember 2009 teilte der Gutachter mit, dass die Antragstellerin an Anpassungsstörungen mit noch vorhandener leicht- bis mittelgradiger depressiver Grundsymptomatik leide. Ende 2008 sei einer ihrer Söhne an S. erkrankt. Im gleichen Zeitraum habe eine Tante einen schweren Schlafanfall erlitten, so dass auch diese von der Antragstellerin habe betreut werden müssen. Zusätzlich habe es an ihrer Arbeitsstelle in der Spirituosenfabrik Z. Probleme gegeben. Bei der Bearbeitung von Ausschreibungen, bei denen die Antragstellerin mit eingesetzt gewesen sei, seien regelmäßig Überstunden angefallen. Sie habe deshalb von morgens 7.00 Uhr bis abends 19.00 Uhr gearbeitet. Ihr Sohn sei krank zu Hause gewesen, was ihr nicht aus dem Kopf gegangen sei. Im Februar und März 2009 habe sie keine Ruhe mehr gefunden, keinen Schlaf mehr gehabt und ihr Gemütszustand sei schlecht gewesen. Sie habe dann von sich aus ihre Arbeitsstelle gekündigt. Ihre Hausärztin habe sie ab 30. März 2009 arbeitsunfähig geschrieben. Auf deren Anraten habe sie den Antrag auf eine Rehabilitationsmaßnahme gestellt. Zurzeit sei sie regelmäßig bei Dr. O. in Behandlung. Sie erhalte von ihm Medikamente. Ihr Gesamtbefinden habe sich bereits erheblich gebessert, sei jedoch noch nicht an dem Punkt ...