Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Opferentschädigung. sexueller Kindesmissbrauch. Glaubhaftmachung. Vorwurf der Mutter nach Scheitern der Beziehung. fehlende zeitnahe Strafanzeige. spätere Angaben des Kindes. frühkindliche Erinnerung. infantile Amnesie
Leitsatz (amtlich)
Zum Nachweis des sexuellen Missbrauchs an einem 15 Monate alten Kind.
Orientierungssatz
1. Die Tatsache, dass die Mutter keine zeitnahe Anzeige erstattet hat, kann den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs eines Kleinstkindes durch den Vater als unglaubhaft erscheinen lassen.
2. Spätere Angaben des Kindes selbst können nicht berücksichtigt werden, da das autobiographische Gedächtnis in aller Regel keine Erinnerungen an die ersten drei Lebensjahre enthält (sog infantile Amnesie).
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist eine Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfer für Gewalttaten (OEG).
Die am ... 2002 geborene Klägerin beantragte am 6. Juni 2007 durch ihre Mutter bei dem Beklagten die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Als Schädigung benannte sie eine Traumatisierung, dissoziale Störungen, schwere Anpassungsstörungen, Kindergartenuntauglichkeit und spastische Deplegie infolge sexuellen Missbrauchs und Psychoterror durch den leiblichen Vater J. B. Die Übergriffe hätten im Zeitraum von 2002 bis 2004 stattgefunden. Die Kindesmutter habe den sexuellen Missbrauch im Februar 2004 direkt nach Vollzug festgestellt, als sie den Kindesvater nackt neben der Klägerin angetroffen habe. Die Windelhose und der Body der Klägerin seien geöffnet gewesen; das Kind habe zwei wunde Stellen aufgewiesen. Tatort sei die Wohnung in Sch., Sachsen-Anhalt, gewesen, vermutlich seien Übergriffe aber auch in A., Schweiz, vorgekommen. Tatanlass sei das Machtverhalten des Erzeugers gegenüber Mutter und Kind gewesen. Dieser habe auch schon als Jugendlicher seine Schwester mehrfach sexuell missbraucht. Er sei von der Kindesmutter im Februar 2004 unmittelbar nach dem Missbrauch auf die Tat angesprochen worden, habe aber darauf nicht ja, nicht nein gesagt, sondern nur provozierend gelächelt.
Der Beklagte zog die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Magdeburg (Aktenzeichen 526 Js 6208/06) bei. Daraus ist ersichtlich, dass die damalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 15. Februar 2006 bei der Staatsanwaltschaft Magdeburg Strafanzeige gegen J. B. gestellt und den Vorfall im Februar 2004 in Sch. nach wörtlichem Zitat aus den Unterlagen der Mutter der Klägerin wie folgt wiedergegeben hatte:
"Sie sei wie erstarrt in der Wohnung gestanden und wusste, dass etwas los ist, sie habe gespürt, dass etwas Schlimmes passiert sei. Sie habe I. in die Arme genommen und gesehen, dass die Windel einseitig offen war und ebenfalls der Body. Es sei offensichtlich gewesen, dass die Windel offen war, denn sie selbst habe die Kleine gewickelt und die Windel ordentlich zugemacht. I. schrie, hatte ein rotes Köpfchen und Ängste. Ich stellte fest, dass I. zwei rote Stellen an der Scheide hatte. Ich stellte den Kindesvater zur Rede. Dieser reagierte nicht, sagte nicht ja, nicht nein, grinste, holte sich Essen aus der Küche und sah fern. Er ließ mich stehen."
Nach diesen Geschehnissen sei es zum endgültigen Bruch der Eheleute gekommen. Die Kindesmutter habe in Deutschland die Scheidung eingereicht und einstweilige Verfügungen zur Aufenthaltsbestimmung für die Klägerin und deren Gesundheitsfürsorge erwirkt. Diese Verfügungen seien anschließend in der Schweiz für ungültig erklärt bzw. in einer späteren Entscheidung vom Amtsgericht Naumburg nicht berücksichtigt worden. Der Kindesvater habe von der Schweiz aus am 5. Mai 2004 beim Amtsgericht Naumburg einen Antrag auf Rückführung der Klägerin nach dem Haager Übereinkommen und gleichzeitig ein Schutzgesuch gestellt. Durch Beschluss vom 24. Juni 2004 habe das Amtsgericht Naumburg entschieden, die Klägerin und damit auch die Kindesmutter müssten mit sofortiger Wirkung in die Schweiz zurückgeführt werden. Dem seien sie nachgekommen und hätten bis zum 18. Oktober 2005 in einer kleinen Wohnung in B. gelebt. Während dieser Zeit habe durch eine weitere Anordnung des Schweizer Gerichts W. für die Klägerin ein Ausreiseverbot bestanden, das am 18. Oktober 2005 durch eine weitere Entscheidung dieses Gerichtes aufgehoben worden sei. Sofort im Anschluss daran sei die Kindesmutter mit der Klägerin nach Deutschland zurückgekehrt.
Aufgrund der eherechtlichen Probleme hätten die damaligen Anwälte der Kindesmutter davon abgeraten, Anzeige wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs zu erstatten. Erst am 20. Januar 2005 habe sie, dabei vertreten von ihrem damaligen Schweizer Anwalt H., Strafanzeige bei der Kantonspolizei B.gestellt. Das erste Verhör der Kindesmutter zum sexuellen Missbrauch der Tochter habe am 22. Februar 2005 in B. bei der Staatsanwaltschaft von 10 bis 19:00 Uhr stattgefunden. ...