Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Behauptung sexuellen Missbrauchs in der frühsten Kindheit. Vernachlässigung von Kindern. tätlicher Angriff. Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. Beweismaßstab der Glaubhaftmachung. stark eingeschränkte Aussagetüchtigkeit. nur sehr fragmentarische und abstrakte Sachverhaltsangaben. Träume. Möglichkeit von Pseudoerinnerungen. suggestive Einflüsse. schizotype Störung. infantil-histrionische Persönlichkeitsstruktur. Borderline-Störung
Leitsatz (amtlich)
1. Für ein Glaubhafterscheinen iS von § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 S 1 KOVVfG genügt es, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände viel für diese Möglichkeit spricht. Daran fehlt es, wenn zwar nicht ausgeschlossen ist, dass der Antragsteller in seiner frühen Kindheit Opfer eines tätlichen Angriffs geworden ist, dies aber nicht die wahrscheinlichste Möglichkeit ist, weil näher liegt, dass seine Angaben auf Pseudoerinnerungen beruhen und wesentlich durch eine psychische Erkrankung sowie durch suggestive Einflüsse eines Therapeuten geprägt sind.
2. Auch im Zusammenhang mit der Vernachlässigung von Minderjährigen setzt die Annahme eines tätlichen Angriffs iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG voraus, dass dieser auf eine körperliche Einwirkung gerichtet ist; eine allein intellektuell vermittelte bzw psychische Einwirkung genügt nicht (vgl BSG vom 23.3.2015 = B 9 V 48/14 B = JAmt 2015, 335).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen sexuellen Missbrauchs und Vernachlässigung im Kindesalter hat.
Die Klägerin wurde im März 1965 als zweites von vier Kindern ihrer alleinerziehenden Mutter in W. geboren. Im Februar 1970 ordnete der Rat des Kreises W. für sie und ihren 1961 geborenen Bruder die Heimerziehung an, weil die Kinder von ihrer Mutter vernachlässigt worden seien. Die Mutter sei dem Jugendgesundheitsschutz seit Jahren wegen Formen der Vernachlässigung ihrer Kinder im Zusammenhang mit einem unmoralischen Lebenswandel bekannt. Hausbesuche hätten ergeben, dass die Mutter ihre Kinder völlig unzureichend versorge und betreue. Häufig wechselnde Männerbekanntschaften beeinflussten das Familienklima ungünstig. Durch ständigen Geldmangel fehle es am Wochenende oft an lebensnotwendigen Nahrungsmitteln. Anfang April 1970 nahm die Pastorin H. B. die Klägerin in Pflege zu sich; im September 1970 adoptierte sie das Mädchen.
Im September 2012 beantragte die Klägerin eine Beschädigtenversorgung nach dem OEG, weil sie in ihren ersten fünf Lebensjahren Opfer massiver sexueller Gewalt geworden sei.
Ihrem Antrag beigefügt war ein "Ärztlicher Befundbericht" von Dr. H. S., Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapie/Psychoanalyse. Dr. S. führte aus: Die Klägerin habe sich erstmals 1994 bei ihm in der psychiatrisch/psychotherapeutischen Ambulanz an der Klinik für Neurologie und Neuropsychiatrie der A. Kliniken S. in S. vorgestellt. Dies sei wegen einer schweren Depression mit Suizidalität im Rahmen einer Schwangerschaft geschehen. Während der Therapie sei nach und nach ein gravierender sexueller Missbrauch im Alter zwischen drei und fünf Jahren bekannt geworden. Es hätten sich typische Symptome einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung gezeigt. Seit Jahren fühle sich die Klägerin immer wieder durch das Nacherleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen ("Bilder des damaligen Haupttäters, des Glatzenmannes") bedroht. Die leibliche Mutter habe häufig wechselnde Partnerschaften gehabt, und die Kinder hätten Szenen von sexueller Gewalt erlebt. Die Mutter habe die Klägerin einem Nachbarn und möglicherweise auch anderen Männern für sexuelle Perversionen zur Verfügung gestellt. Als zusätzlich traumatisierend habe die Klägerin den durch die Heimunterbringung bedingten abrupten Abbruch des Kontakts zu ihrem vier Jahre älteren Bruder erlebt. Dieser sei für sie als Schutz und Halt besonders wichtig gewesen.
Dr. S. berichtete, dass die Klägerin nach den ersten ambulanten Kontakten wiederholt im Rahmen von Kriseninterventionen auch stationär in der Klinik behandelt worden sei: 1995 zweimal für mehrere Monate, 1998 und 1999 jeweils für wenige Tage. Weiterhin sei bis zu seinem Ausscheiden aus der Klinik im Jahr 2002 durchgehend eine zeitweise sehr engmaschige ambulante medikamentöse und unterstützend psychotherapeutische Behandlung erfolgt. Seit Anfang 2003 hätten nur noch spontane, teilweise briefliche oder telefonische Kontakte bestanden.
In seinem Bericht ging Dr. S. außerdem auf einen Entlassungsbericht des Fachklinikums B. ein, der 2011 nach einer Reha-Maßnahme der Klägerin erstellt worden war. Dr. S. f...