Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bildung und Teilhabe. außerschulische Lernförderung. Legasthenie und Dyskalkulie. Therapie zur Behandlung als Lernförderung. Abgrenzung zur Lese- und Rechtschreibschwäche. Sachaufklärungspflicht der Sozialgerichte. Verbesserung des Leistungsniveaus als wesentliches Lernziel. Angemessenheit der Lernförderungskosten. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Fahrkosten zur Therapie
Leitsatz (amtlich)
1. Ansprüche auf Übernahme der Kosten für Lernförderung nach § 28 Abs 5 SGB II sind gerichtlich isoliert durchsetzbar (BSG vom 25.4.2018 - B 4 AS 19/17 R = SozR 4-4200 § 28 Nr 11, juris RN 13).
2. Bei einer Therapie zur Behandlung einer Legasthenie bzw Dyskalkulie handelt es sich um eine Lernförderung im Sinne von § 28 Abs 5 SGB II.
3. Zur Feststellung und Abgrenzung von Legasthenie und Lese-Rechtschreibschwäche (LRS).
4. Die Sozialgerichte stellen eine Lernschwäche oder Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) von Amts wegen fest. Bei der Sachaufklärung ist grundsätzlich nicht auf die Einschätzung der Therapeutin/des Therapeuten abzustellen. Der in § 35a Abs 1a S 4 SGB VIII normierte Grundsatz, wonach zur Vermeidung von Interessenkollisionen für die Feststellung des Hilfebedarfs nicht der Leistungserbringer (Therapeut) herangezogen werden soll, ist im SGB II entsprechend anzuwenden.
5. Wesentliches Lernziel kann in einer schulischen Ausbildung neben der Versetzung in die nächsthöhere Klassenstufe auch eine Verbesserung des Leistungsniveaus bei Vorliegen einer Legasthenie oder Dyskalkulie sein. Das wesentliche Lernziel ist nicht abstrakt, sondern im jeweiligen Einzelfall differenzierend nach Schulform und Klassenstufe anhand der jeweiligen schulrechtlichen Bestimmungen zu ermitteln.
6. Zur Angemessenheit der Kosten für Lernförderung.
7. Zum Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen für die Fahrtkosten zur Durchführung der Lernförderung.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 18. November 2015 sowie die Bescheide des Beklagten vom 30. Oktober 2014 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 2. März 2015 werden hinsichtlich des Klägers aufgehoben und der Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten für die außerschulische Lernförderung in Höhe von 150 € für Januar 2015, jeweils 200 € für die Monate Februar bis Mai 2015 sowie die Fahrtkosten in Höhe von 12 € für Januar 2015 und jeweils 16 € für die Monate Februar bis Mai 2016 zu erstatten.
Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger in beiden Rechtszügen zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten sind Leistungen der Lernförderung nach § 28 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) wegen Legasthenie und Dyskalkulie im Zeitraum von Januar bis Mai 2015.
Der 2005 geborene Kläger und Berufungskläger zu 1) (im Weiteren: Kläger) und die 2006 geborene Klägerin und Berufungsklägerin zu 2) (im Weiteren: Klägerin) standen zusammen ab Juni 2013 mit ihrer Mutter und zwei weiteren Geschwistern bei dem Beklagten und Berufungsbeklagten (im Weiteren: Beklagter) im laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB II.
Der Kläger wurde im August 2012 in die 1. Klasse der Grundschule in N. eingeschult, besuchte dort von August 2013 bis Juli 2014 die 2. Klasse und wurde im September 2014 in die 3. Klasse versetzt. Die Klägerin wurde im August 2013 in die gleiche Schule eingeschult und wiederholte das erste Schuljahr ab September 2014.
Im April 2013 vereinbarte die Mutter als gesetzliche Vertreterin mit der Praxisgemeinschaft für Logopädie und Ergotherapie M (im Weiteren: Therapeutin) für den Kläger ein wöchentliches Einzeltraining im Fach Deutsch zu 50 € je Unterrichtsstunde (90 Minuten), nachdem ein von der Therapeutin durchgeführtes pädagogisches Testverfahren beim Kläger eine angeborene Legasthenie ergeben hatte. Der Burgenlandkreis bewilligte für die Zeit von Mai bis Juli 2013 Leistungen der Lernförderung nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) von monatlich 200 €. Im Mai 2013 beantragte der Kläger unter Vorlage einer Bescheinigung seiner Klassenlehrerin, die eine Förderung zwei- bis dreimal pro Woche im Fach Deutsch empfohlen hatte, bei dem Beklagten erstmals die Übernahme der Kosten der außerschulischen Lernförderung. Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Lernförderung sei nach dem Gesetz in der Regel nur kurzzeitig notwendig, um eine vorübergehende Lernschwäche zu beheben. Dies treffe auf eine Legasthenietherapie nicht zu (Bescheid vom 15. Juli 2013 und Widerspruchsbescheid vom 2. September 2013). Ein Antrag des Klägers auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Halle (SG) blieb ohne Erfolg (S 34 AS 4015/13 ER). Auf der Grundlage einer vergleichsweisen Einigung im Beschwerdeverfahren (Vergleich vom 15. November 2013 im Verfahren L 2 AS 964/13 B ER) übernahm der Beklagte ab dem 18. Mai 2013 zunächst bis Mai 2014 vorläufig die Kosten für eine außerschulische Le...