Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. zeitlich begrenzte Erwerbsminderung bei erfolgversprechendem Behandlungspotenzial. objektive Beweislast. Nichtaufklärbarkeit des medizinischen Sachverhalts zu Lasten des Rentenantragstellers
Leitsatz (amtlich)
1. Das Bestehen erfolgversprechenden Behandlungspotenzials schließt eine zeitlich begrenzte Erwerbsminderung nicht aus, wenn das Leistungsvermögen auf nicht absehbare Zeit auf unter sechs Stunden täglich herabgesunken ist.
2. Die Feststellung einer Erwerbsminderung unterliegt den Grundsätzen der objektiven Beweislast. Die Nichtaufklärbarkeit des medizinischen Sachverhalts geht zu Lasten des Klägers.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 21. September 2017 und der Bescheid der Beklagten vom 2. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2013 werden abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über den 30. Juni 2012 hinaus bis zum 31. März 2019 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu bewilligen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Weiterbewilligung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) über den 30. Juni 2012 hinaus streitig.
Der am ... 1971 geborene Kläger absolvierte von 1988 bis 1993 eine Lehrausbildung zum Karosserie- und Fahrzeugbauer. Anschließend war er bis zum Abschluss seiner Meisterausbildung im Jahr 2000 in seinem erlernten Beruf, danach als Handwerksmeister in der Werkstatt eines Autohauses tätig. Der Kläger ist bereits seit dem 29. April 2009 bei weiterhin bestehendem Arbeitsverhältnis arbeitsunfähig. Er bezog Krankengeld und Arbeitslosengeld. Seitdem bezieht er Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Auf seinen Antrag vom 2. September 2010 bewilligte ihm die Beklagte mit Bescheid vom 5. April 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. April 2011 bis zum 30. Juni 2012.
Der Beklagten hatten die Epikrise des Fachklinikums Be. über den stationären Aufenthalt ab 1. Mai 2009 mit gerichtlich angeordneter Unterbringung vom 2. Mai bis zum 12. Juni 2009 sowie der Entlassungsbericht der Fachklinikum B. GmbH & Co. KG vom 10. Juni 2010 über die stationäre psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme vom 13. April bis zum 18. Mai 2010 vorgelegen. In der Epikrise wurden als Diagnosen eine akute psychotische Störung beim Missbrauch anaboler Substanzen sowie als Differenzialdiagnose die Erstmanifestation einer paranoiden Schizophrenie benannt. Nach dem Ablauf der Unterbringungszeit habe der Kläger eine weitere Behandlung auf der offenen Station bzw. eine tagesklinische Behandlung abgelehnt. Im Reha-Entlassungsbericht wurden als Diagnosen eine Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion, gemischt bei einem Zustand nach wahnhafter Störung sowie eine neu eingestellte arterielle Hypertonie aufgeführt. Der Kläger könne als Handwerksmeister im Autohaus sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mittelschwere körperliche Arbeiten nach entsprechender Rekonvaleszenz - in Abhängigkeit vom weiteren Heilungsverlauf - 6 Stunden und mehr täglich verrichten.
Die Beklagte hatte u.a. einen Befundbericht von der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dipl.-Med. S., bei der sich der Kläger seit 5. Januar 2010 in regelmäßiger Behandlung befindet, vom 28. August 2010 eingeholt. Eine Konfrontation im Alltag sei zurzeit nicht möglich. Der Kläger lehne eine erneute Wiedereingliederung sowie eine empfohlene tagesklinische Behandlung ab. Ferner hatte die Beklagte das nach Aktenlage von Dr. W. unter dem 28. Oktober 2010 für die Agentur für Arbeit Sa. erstattete Gutachten (vollschichtiges Leistungsvermögen) und die gutachterliche Äußerung von der Fachärztin für Allgemeinmedizin und Betriebsmedizin G. für die Agentur für Arbeit Sa. vom 16. November 2010 (positives Ergebnis im Reha-Entlassungsbericht habe sich nicht bestätigt) beigezogen.
Die Beklagte hatte zudem die Nervenfachärztin Dr. Br. das Gutachten vom 14. März 2011 erstatten lassen. Der Kläger habe bei der Untersuchung angegeben, zurzeit zurückgezogen bei den Eltern zu leben. Er traue sich Maßnahmen zur Teilhabe und auch eine tagesklinische Behandlung nicht zu. Die Gutachterin beschrieb den Kläger als vermindert schwingungsfähig, rigide, starr, schwunglos, dysphorisch verstimmt, infantil, mit abhängigen Persönlichkeitszügen, ausgeprägter Störanfälligkeit, verminderter Stress- und Frustrationstoleranz sowie Rückzugstendenzen. Als Diagnosen hatte Dr. Br. eine persistierende psychoenergetische Defizienz nach akuter psychotischer Störung beim Missbrauch anaboler Substanzen 2009 (Erstmanifestation einer paranoiden Schizophrenie), eine Anpassungsstörung und eine Angststörung benannt. Der Kläger sei der...