Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. keine Einbeziehung bestandskräftiger isolierter Ablehnungsbescheide im Wege der Klageänderung. Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. kostenaufwändige Ernährung. Lactoseintoleranz. Beschränkung des Streitgegenstands. Beweiswürdigung. Vollkost. Kenntnis von der Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine im Verlauf eines Bewilligungsabschnitts vorgelegte ärztliche Bescheinigung über einen Ernährungsmehrbedarf ist als Änderungsantrag nach § 48 SGB 10 zu behandeln. Der nachfolgende isolierte Ablehnungsbescheid hat nur Bindungswirkung für den laufenden Bewilligungsabschnitt. Im sozialgerichtlichen Verfahren können Bescheide für folgende Bewilligungsabschnitte nur im Wege einer Klageänderung gem § 99 SGG einbezogen werden.
2. Voraussetzung für einen Anspruch auf Mehrbedarfsleistungen für kostenaufwändige Ernährung ist neben der erkrankungsbedingten Notwendigkeit einer besonderen Kostform die Kenntnis des Leistungsberechtigten von der Erkrankung. Für Zeiten vor Kenntnis von der Diagnose kann kein Leistungsanspruch bestehen.
3. Eine bei der Diagnose Laktoseintoleranz empfohlene laktosearme Ernährung verursacht regelmäßig keinen erhöhten Kostenaufwand; unverträgliche Nahrungsmittel sollen gemieden werden. Es ist weder ein vollständiger Verzicht auf laktosehaltige Lebensmittel noch eine Substitution durch spezielle Nahrungsmittel geboten. Dies ist im Rahmen einer Vollkosternährung möglich.
3. Die Einschätzungen in den Empfehlungen des Deutschen Vereins (2014) entsprechen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit. Sie sind auch für Zeiträume in der Vergangenheit anwendbar.
4. Soweit aufgrund von geistigen Leistungseinschränkungen die empfohlene laktosereduzierte Ernährung nicht umgesetzt werden kann, stellt dies keinen medizinischen Grund für die Gewährung eines Ernährungsmehrbedarfs dar.
5. Es ist nicht zu überprüfen, ob mit dem in der Regelleistung enthaltenen Betrag für Ernährung eine gesunde und laktosearme Ernährung möglich ist. Es gibt keinen Anspruch auf höhere Regelleistung aufgrund eines individuellen Ernährungsbedarfs.
Normenkette
SGB II § 21 Abs. 5, § 41 Abs. 1 S. 4; SGB X § 48 Abs. 1
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 19. März 2013 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Bewilligung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 21 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) wegen einer Laktose- und Fruktoseintoleranz für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 31. Mai 2013.
Die am ... 1980 geborene alleinstehende Klägerin bezieht seit 2005 Leistungen nach dem SGB II. Zuletzt waren ihr mit Bescheid vom 18. Juni 2009 Leistungen für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 2009 i.H.v. 520,81 EUR/Monat ohne Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung bewilligt worden.
Die Klägerin legte am 25. Juni 2009 eine ärztliche Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin H. vom 23. Juni 2009 vor. Danach bestehe eine Laktoseintoleranz und es sei eine laktosefreie Kost erforderlich.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26. Juni 2009 ab. Es bestehe kein Mehrbedarf wegen einer kostenaufwändigen Ernährung. Laktosefreie oder -reduzierte Nahrungsmittel seien in einigen Verbrauchermärkten kostengünstig zu erwerben.
In ihrem dagegen gerichteten Widerspruch machte die Klägerin geltend, die erforderlichen Lebensmittel könne sie nicht ohne erhebliche Mehrkosten erwerben. Sie legte einen Preisvergleich verschiedener Lebensmittel vor.
Der Beklagte holte eine Stellungnahme des Facharztes für Innere Medizin Dr. R. vom 30. Oktober 2009 ein. Die aus dessen Sicht lebenslang notwendige laktosefreie Diät sei im Vergleich zu der normalen Kostform um etwa 10 bis 20 % teurer.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2010 als unbegründet zurück. Ergänzend führte er aus, seit einigen Jahren gäbe es laktosefreie Produkte auch im Discountbereich; deshalb seien diese nicht teurer als normale Vergleichskost.
Dagegen hat die Klägerin am 9. Februar 2010 Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben und sich auf die Einschätzung von Dr. R. bezogen. Im Februar 2012 sei auch eine Fruktoseintoleranz nachgewiesen worden. Ferner hat sie ein Haushaltsbuch für die Zeit von März bis Oktober 2011 vorgelegt.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht von der Fachärztin für Allgemeinmedizin B. vom 14. August 2012 eingeholt. Diese hat als Diagnosen eine Laktose- und Fruktoseintoleranz sowie ein Reizdarmsyndrom genannt. Erforderlich sei eine ständige möglichst laktose- und fruktosearme Kostform.
Zwischenzeitlich hat der Beklagte antragsgemäß weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, jeweils ohne Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung, bewilligt vom 1. Januar bis 30. November 2010 (Bescheid vom 9. Dezemb...