Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Verzögerungsmonate. materielle Verfahrensleitung. richterliche Unabhängigkeit. Einschätzungsprärogative des Ausgangsgerichts. Fristsetzung an den Sachverständigen. keine Notwendigkeit von monatlichen Erinnerungen oder Ordnungsgeld bei wenigen Monaten. Abwarten eines angekündigten Verwaltungsgutachtens. ex-ante-Beurteilung. gesetzliche Aktivitätszeit für Abfassung des Urteils. Verzögerung durch zulässiges klägerisches Prozessverhalten. besondere Schwierigkeit des Verfahrens. großer Aktenumfang und viele Anträge
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Entscheidung, ob und welche Frist einem Sachverständigen zu setzen ist und wann er wie an die Erstellung des Gutachtens zu erinnern ist, handelt es sich um eine Maßnahme der materiellen Verfahrensleitung, die in den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit fällt.
2. Auch die Entscheidung des Gerichts, im Hinblick auf die zu erwartenden medizinischen Erkenntnisse aufgrund einer ausstehenden Begutachtung des Klägers im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens sowie eines Parallelverfahrens zunächst nicht weitere Maßnahmen zur Verfahrensförderung zu ergreifen, unterliegt grundsätzlich seiner Entscheidungsprärogative und ist - mit Ausnahme unvertretbarer oder schlechthin unverständlicher Wartezeiten - durch das Entschädigungsgericht grundsätzlich nicht als Verfahrensverzögerung zu bewerten.
3. Eine besondere Schwierigkeit des Verfahrens kann auch auf dem Umfang der Akten des Verfahrens (700 Seiten) sowie eines für das Verfahren relevanten Parallelverfahrens (400 Seiten Akteninhalt) und der Vielzahl von Anträgen des Klägers beruhen.
Orientierungssatz
1. Zum Leitsatz 2 vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R = BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16.
2. Zumindest solange die gesamte Bearbeitungszeit durch den Sachverständigen (wie hier) noch unter 6 Monaten liegt, hält der Senat eine monatliche Erinnerung des Sachverständigen oder die Androhung eines Ordnungsgeldes nicht für notwendig.
3. Der Senat hält es zudem für vertretbar, aus ex-ante-Sicht ein kurzfristig zu erwartendes, aber noch nicht vorliegendes (Verwaltungs-)Gutachten abzuwarten - selbst wenn sich später herausstellen sollte, dass ein solches nicht erstellt wird.
4. § 134 Abs 2 S 1 SGG billigt dem Gericht einen Monat als gesetzlich definierte Aktivitätszeit für die Formulierung und die Niederschrift des Urteils zu, der daher nicht der allgemeinen Vorbereitungs- und Bedenkzeit zugeordnet werden kann (vgl BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R ).
5. Zeiten durch den Kläger selbst herbeigeführte Verfahrensverzögerungen fallen, auch wenn sie sich wie hier im Rahmen zulässigen Prozessverhaltens bewegen, in seinen Verantwortungsbereich und können keine unangemessene Verfahrensdauer begründen (vgl BSG vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 4 und vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R = BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16).
6. Weitgehend parallel zur Entscheidung des LSG Halle (Saale) vom 30.5.2023 - L 10 SF 47/21 EK.
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 11.784,11 € festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt vom Beklagten eine Entschädigung aufgrund der behaupteten überlangen Dauer eines Berufungsverfahrens beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt ( L 1 R 180/16 ).
Am 3. Dezember 2013 ging die von der Schwester des Klägers als Prozessbevollmächtigte gefertigte Klageschrift am Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau ein, mit der der Kläger die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung begehrte. Das SG übersandte am 10. Dezember 2013 der beklagten Rentenversicherung eine Abschrift und forderte zugleich den Kläger zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht sowie zur ausgefüllten Rückgabe eines beigefügten Fragebogens auf. Noch im selben Monat beantragte die Rentenversicherung Klageabweisung. Dieser Schriftsatz wurde dem Kläger am
10. Januar 2014 zur Kenntnisnahme übersandt.
Am 23. Januar 2014 (Eingang am Gericht) reichte die Rentenversicherung Unterlagen nach. Am 24. Januar 2014 erinnerte das SG an die Übersendung des Fragebogens nebst Schweigepflichtentbindung. Am 4. Februar 2014 begründete der Kläger die Klage weiter und fügte den ausgefüllten Fragebogen nebst Entbindungserklärung von der Schweigepflicht bei.
Am 14. Februar 2014 forderte das SG die Rentenversicherung hierzu zur Stellungnahme auf und holte zugleich mehrere Befundberichte ein. Die eingegangenen drei Befundberichte übersandte das SG am 27. März 2014 dem Kläger zur Kenntnis und der beklagten Rentenversicherung zur Kenntnis- und Stellungnahme. Diese setzte sich mit einem am 4. April 2014 am SG eingegangenen Schriftsatz mit der Argumentation des Klägers auseinander und beantragte weiterhin Klageabweisung. Diese Ausführungen erhielt der Kläger mit Schreiben vom 17. April 2014 zur Kenntnisnahme.
Am 8. Mai 2014 beantragt...